Während der Schwangerschaft: Geburtsvorbereitungskurse und Wahl einer Kinderärztin. Nach der Geburt: Stillberatung und Hebamme. Das scheint in der Schweiz selbstverständlich – nicht aber für Mütter ohne Aufenthaltsbewilligung, sogenannte «Sans Papiers».

stilisierte Umrisse einer Frau und eines Kindes
(Symbolbild: ©istock.com/shipshit)

Während meiner Forschung zu Elternschaft in der Schweiz traf ich Grace (Name geändert), eine alleinerziehende Mutter aus Genf. Aus Kenia stammend, hatte sie während der Schwangerschaft und frühen Kindheit ihrer Tochter keine Aufenthaltsbewilligung und bekam diese erst wieder, als ihre Tochter vier Jahre alt war.

Grace hatte zuvor ein Studentenvisum gehabt, welches nach Abbruch ihres Studiums ungültig geworden war. Mit dem Verlust des Visums verlor Grace auch ihre Krankenversicherung. Der Status von Grace’ Tochter galt ebenfalls als ungeregelt, da der Kindsvater, ein Schweizer Bürger, die Vaterschaft zunächst abstritt. Grace und ihre Tochter lebten mehrere Jahre in einer Notunterkunft und waren vorübergehend obdachlos.

In der Schweiz werden jährlich schätzungsweise 300 Kinder von Frauen ohne Aufenthaltsbewilligung geboren. Das Thema der sogenannten «undokumentierten Mutterschaft» wurde von der Forschung bisher vernachlässigt. Das Fallbeispiel von Grace gibt erste Einblicke, wie sich der Aufenthaltsstatus auf die Erfahrung von Mutterschaft auswirkt.

Milchpulver statt Muttermilch

Während ihrer Schwangerschaft wurde Grace in einem öffentlichen Krankenhaus betreut. Die Kosten hierfür wurden von den sozialen Diensten des Krankenhauses beglichen. Nach der Entbindung bereitete ihr das Stillen Probleme. Die in der Notunterkunft tätigen Sozialarbeiterinnen und -berater organsierten keine Stillberaterin für Grace, und sie selbst wusste nichts von dieser Möglichkeit. Hebammen für die Wochenbettbetreuung kamen nur selten in die Notunterkunft. Grace war gezwungen, ihre Tochter mit Milchpulver zu ernähren, was eine grosse finanzielle Belastung bedeutete.

Grace litt an einer postnatalen Depression, welche erst diagnostiziert wurde, als ihre Tochter sechs Monate alt war. Grace wurde in ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen, während ihre Tochter in einem Kinderkrankenhaus betreut wurde. Grace glaubt, dass die Diagnose früher gestellt worden wäre, wenn sie eine engmaschigere Versorgung im Wochenbett erhalten hätte. Während die meisten Eltern ihr Neugeborenes bei einer Kinderärztin oder einem Kinderarzt ihrer Wahl anmelden können, konnte Grace ihre Tochter nur in Notfalleinrichtungen, wie öffentliche Krankenhäuser, bringen, da ihre Tochter zunächst keine Krankenversicherung hatte. Dies widerstrebte Grace, da sie befüchtete, dass sich ihr Neugeborenes dort eine Infektion holen könnte.

Grace hatte das Gefühl, den Beamtinnen und Beamten den Eindruck vermitteln zu müssen, dass sie «die beste Mutter» sei.

Aufgrund des ausstehenden Visumantrags und den juristischen Anstrengungen, ihrer Tochter die Schweizer Staatsbürgerschaft zu beschaffen, hatte Grace regelmässigen Kontakt mit öffentlichen Behörden. Grace hatte das Gefühl, den Beamtinnen und Beamten den Eindruck vermitteln zu müssen, dass sie «die beste Mutter» sei, besonders weil sie als Sans Papiers eine Schweizer Bürgerin aufzog. Die Angst, das Sorgerecht zu verlieren, übte grossen Druck auf Grace aus und hatte einen Einfluss darauf, wie sie nach Rat suchte.  So besuchte Grace beispielsweise die Mütter- und Väterberatung, traute sich allerdings nicht, die Beraterinnen selbst zu konsultieren: «Ich stellte immer sicher, dass eine Freundin mitkommt, denn ich hatte solche Angst davor, komische Fragen zu stellen. Ich wollte nicht, dass irgendjemand denkt, dass ich nicht weiss, was ich tue. Also liess ich meine Freundin alle Fragen stellen. Ich wollte, dass alle denken, dass ich die perfekte Mutter bin, dass ich alles weiss!»

Nicht auf dem «Radar»

Während der ersten Lebensjahre ihrer Kinder stehen Eltern oft mit diversen Fachpersonen wie Kinderärztinnen, Hebammen und Mütterund Väterberaterinnen in Kontakt. Hierbei spielt nicht nur das Einholen von Informationen bezüglich Neugeborenenpflege oder Stillen eine Rolle, sondern oben genannte Fachpersonen evaluieren auch die psychische Verfassung der Mutter. Politische Entscheidungsträgerinnen und -träger, Fachpersonen und auch Eltern fassen die frühe Kindheit als wegweisende Phase auf, in der die Grundsteine für Gesundheit und Erfolg im Erwachsenenleben gelegt werden. Eltern wird die Inanspruchnahme frühkindlicher Angebote von staatlichen Stellen nahegelegt, und tatsächlich nutzt ein hoher Prozentsatz die Mütter- und Väterberatung. Mütter ohne Aufenthaltsbewilligung sind jedoch unter Umständen nicht auf dem «Radar» von Fachpersonen und können so Beratungsangebote nicht in dem Umfang nutzen, wie von ihnen gewünscht, auch aus Angst, entdeckt zu werden, falls sie ihren Status vor den Behörden geheim halten.

Grace’ Erfahrungen werfen ein Licht darauf, wie sich der rechtliche Aufenthaltsstatus auf Mutterschaft auswirken kann. Sans Papiers erhalten nicht die Versorgung, die Mütter mit geregeltem Status bekommen. Während des Wochenbetts sind Sans Papiers besonders anfällig für negative Gesundheitsfolgen, vor allem wenn eine Betreuung durch Fachpersonen fehlt. Nach der Geburt benötigen nicht nur Mütter, sondern auch deren Kinder medizinische Versorgung, was sich jedoch ohne Krankenversicherung schwierig gestalten kann.

Langfassung des Artikels

Laura Preissler

Doktorandin am Ethnologischen Seminar. Ihre Dissertation mit dem Arbeitstitel «Navigating Parenting in Switzerland» realisiert sie, betreut von Professorin Bettina Beer, im Rahmen des Universitären Forschungsschwerpunkts «Wandel der Familie im Kontext von Migration und Globalisierung» (FaMiGlia).
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