Heute kann über alles gesprochen werden: Jein, sagen Psychologie-Professorin Karin Hediger und Psychologie-Professor Andrew Gloster. Und machen auf das Zuhören, den Einsatz von KI und Tiere in der Therapie aufmerksam.

Illustration mit zwei Frauen im Gespräch mit einem durch eine Sprachblase symbolisierten Graben zwischen ihnen
(Bild: ©istock.com/Mary Long)

«Wir müssen reden!»: So lautet der Titel des «Fokus»-Themas der vorliegenden «cogito»-Ausgabe. Wird denn zu wenig miteinander gesprochen?

Karin Hediger: Hierzu muss man zuallererst sagen, dass es definitiv nicht so ist, dass in unserer Gesellschaft nicht oder nicht mehr miteinander geredet wird. Wie man insbesondere bei Kindern und Jugendlichen beobachten kann, haben physische Sozialkontakte zwar abgenommen – gleichzeitig wird jedoch viel über elektronische Kanäle kommuniziert.

Es ist also nicht so, dass «Funkstille» herrscht …

Nein, auf keinen Fall, man unterhält sich viel, zum Beispiel über Alltägliches, über Hobbys usw. Und daran ist an sich auch nichts auszusetzen. Die Frage stellt sich allerdings, ob genügend über Dinge gesprochen wird, über die uns ein Austausch ebenfalls guttäte, also über persönliche Themen.

Über solche im Zusammenhang mit psychischem Wohlbefinden, meinen Sie?

Genau. Diesbezüglich ist in jüngerer Zeit auf der einen Seite eine gewisse Enttabuisierung zu beobachten, sodass vermehrt offen darüber gesprochen wird und gesprochen werden darf, wie es einem emotional und mental geht. Auf der anderen Seite – so meine Einschätzung – gibt es doch Grenzen. Aus meiner Tätigkeit als Psychotherapeutin, die ich zusätzlich zur Professur ausübe, aber auch in meinem Umfeld erlebe ich, dass es von vielen Menschen noch immer als enorm schwierig erachtet wird, gewisse Themen anzusprechen.

Andrew Gloster: Mir scheint, in der Gesellschaft ist nach wie vor die Ansicht vorherrschend, dass man in der Regel einigermassen glücklich sein sollte – diese normative Haltung erschwert ein offenes Miteinander-Sprechen über anders gelagerte Empfindungen. Wobei solche auf jeden Fall eine Realität sind: So bin ich mir sicher, dass jede und jeder sehr wohl gute und eben auch weniger gute Momente hat, was ja völlig natürlich und bis zu einem gewissen Grad unproblematisch ist.

Hediger: Doch genau diese Realität spiegelt sich oft nicht auf Social Media wider, was eine Verfälschung der Wahrnehmung nach sich ziehen kann: Alle anderen sind – wie etwa Ferienfotos suggerieren können und wie man deshalb vielleicht anzunehmen versucht ist – glücklich, nur man selbst nicht.

Im Grunde gibt oder gäbe es ja einen geradezu kongenialen Türöffner für tiefergehende Gespräche: «Wie geht es dir/Ihnen?» Weshalb bleibt es derart häufig beim «Danke, gut, und dir/Ihnen?» bzw. wird auch gar nichts anderes erwartet?

Gloster: Das Stellen dieser Frage und auch die Antwort darauf erfolgen tatsächlich oft zumeist in einem ritualisierten Sinne und zielen nicht auf die eigentliche Bedeutung. So oder so braucht es einen guten Rahmen für solche Gespräche – denn wenn jemand effektiv von sich preisgibt, dass es ihm nicht gut geht, löst das natürlich auch bei der zuhörenden Person etwas aus, es erfolgt ein «Mitschwingen». Auch ist je nachdem zu klären, ob von der sich offenbarenden Person Teilnahme oder aber konkrete Unterstützung bei der Problemlösung gesucht wird.

Hediger: In privaten Situationen hört hier manche und mancher womöglich ein wenig gar rasch mit dem «Appell-Ohr», also dass man sofort helfen und Ratschläge geben möchte, was aber nicht immer sofort notwendig ist. Das Zuhören allein, für den anderen da zu sein und sich Zeit zu nehmen, ist sehr wertvoll bzw. vielleicht wertvoller, als teilweise gedacht wird, und wichtig in solchen Situationen.

Und gleichzeitig kann das Gehörte auch als belastend erlebt werden …

Gloster: Man muss in der Tat reflektieren können, was das in einem selbst auslöst, und damit umgehen lernen, Negatives aushalten zu können. Ich spreche hier jetzt insbesondere vom klinischen, therapeutischen Bereich. Unter anderem auch hierzu möchten wir unsere Psychologie-Studierenden im Verlaufe ihres Studiums – schwerpunktmässig im Master – im Rahmen von speziellen Trainings befähigen. Was Gesprächsführung-Skills anbelangt, erfolgen bereits im Bachelor nach der Vermittlung der theoretischen Grundlagen Stück für Stück erste praktische Übungen, natürlich noch nicht mit echten Klientinnen und Klienten.

Das alltägliche Miteinander-Reden verbessern: Dazu gibt es für Laien inzwischen eine ganze Schwemme an Ratgeberliteratur – wie ist das einzuschätzen?

Hediger: Zum einen zeigt dies auf, wie stark der Informationsbedarf diesbezüglich ist. Grundsätzlich lässt sich gegen solche Ratgeber nichts einwenden, sofern sie professionell realisiert sind. Zum anderen ist das aber auch ein Fingerzeig bezüglich einer generellen Thematik: Und zwar meine ich den zum Teil beobachtbaren starken Drang der Gesellschaft und des Einzelnen, sich selbst und Situationen hin zu einer vermeintlichen Perfektion und Effizienz optimieren zu wollen. Und dies mithilfe einer schon fast instrumentalisiert eingesetzten Psychologie, von der man sich zudem für jedwedes Problem ein Rezept erhofft. Sicher gibt es viel Grundlegendes, das man bei Gesprächen beachten kann, etwa das erwähnte Zuhören. Bei «Tipps» scheint mir aber generell Vorsicht angebracht – denn es wird sehr schnell viel komplexer und eben auch individuell.

Gloster: Falls in Ordnung, nehme ich die Gelegenheit gerne wahr, um beim Stichwort der Individualisierung einzuhaken, denn genau darum geht es in der Psychotherapie-Forschung, die ich betreibe.

Bei der Psychotherapie drängt sich eine personalisierte, individuelle Behandlung auf – hierzu forsche ich.
Andrew Gloster
Professor für Klinische Psychologie

Ja, sehr gerne!

Seit rund dreissig Jahren wird in der Psychotherapie-Forschung mit sogenannten Manuals gearbeitet. Es handelt sich hierbei um standardisierte Anleitungen für therapeutisches Handeln. Bis heute herrscht die Lehrmeinung vor, dass Diagnosen, z.B. «Depression», mit einem Manual zu behandeln sind, das man Manual-konform umzusetzen hat, um ein erfolgreiches Ergebnis zu erzielen. Bei allen positiven Aspekten ist diese Praxis allerdings auch mit gewissen Annahmen verbunden, die mittlerweile als überholt erachtet werden können. Daher tut eine Weiterentwicklung not.

Und dies in Richtung der angesprochenen Individualisierung?

Genau, hier setzen ich und mein Team an. Was die Behandlung von Klientinnen und Klienten mit einer bestimmten Diagnose und anhand eines entsprechenden Manuals anbelangt, kann diese, was den statistischen Mittelwert der Behandelten angeht, erfolgreich sein. Sobald man aber jede Einzelne und jeden Einzelnen betrachtet, zeigen sich teilweise erhebliche Unterschiede, auf die möglichst massgeschneidert einzugehen ist. Daher drängt sich eine personalisierte, individuelle Behandlung auf. Dazu forsche ich – unter anderem mithilfe von Machine Learning bzw. künstlicher Intelligenz (KI).

Wie kann man sich das vorstellen?

Wir bauen diese modernsten Technologien in sogenannte Assessments ein. In Assessments geht es darum, dass die Klientinnen und Klienten ihr psychisches Wohlbefinden selbst eingehend bewerten – aus der Auswertung dieser Daten wiederum ist es möglich, Rückschlüsse auf angemessene Therapiemethoden zu ziehen. Via App auf dem Smartphone oder Smartwatch werden mittels KI über einen längeren Zeitraum immer wieder Fragen gestellt. Zum Beispiel, was die Person in den nächsten beiden Stunden zu tun vorhat. Nach zwei Stunden kann daran angeknüpft und gefragt werden: «Haben Sie getan, was Sie sich vorgenommen haben, ist es geglückt? Falls ja, welche Effekte hat dies, falls nein, was waren die Gründe dafür?» Es erfolgt ein richtiggehender Dialog, um tiefer zu verstehen – eben nicht nur anhand von klassifizierbaren Symptomen –, warum es einer Person wie geht.

Und wie lässt sich das konkret erfassen? 

Wenn man solche Fragen über einen längeren Zeitraum immer wieder beantworten lässt, ergeben sich grosse Datenmengen, die sich auswerten lassen. Sichtbar werden Muster, was die Personen in ihrem Leben beschäftigt – daran kann in der Therapie angeknüpft werden. Wichtig: Es geht nicht darum, menschliche Psychotherapeutinnen und -therapeuten zu ersetzen, sondern darum, KI als Instrument zu nutzen, um die Effektivität und Effizienz von Therapien und letztlich das Wohlbefinden von Klientinnen und Klienten zu verbessern. Solche Forschung braucht natürlich Zeit, das ist etwas sehr Neuartiges.

Hediger: Derartige Technologien, immer sehr bedacht eingesetzt, könnten womöglich auch in niederschwellige Programme implementiert werden. Dies mit dem Ziel, zu verhindern, dass so viele Leute dann effektiv eine Psychotherapie benötigen.

Gerade das begrenzte Therapieangebot ist ja ein grosses Thema …

Um es mit dem «Fokus»-Thema auszudrücken: «Politik, wir müssen reden!» So kann es infolge des Mangels an Plätzen zurzeit durchaus ein Jahr dauern, bis Kinder und Jugendliche eine Psychotherapie beginnen können, oder auch mehrere Monate bei Erwachsenen. Ausser, die Situation geht ins Lebensbedrohliche, dann läuft es natürlich rascher. Dies ist ein grosses Problem. Aber neben der Politik ist natürlich auch die Forschung gefordert, da möchte ich mich nicht aus der Verantwortung nehmen.

Durch Tiere können Kinder in der Therapie zu mir als Therapeutin eine Beziehung aufbauen.
Karin Hediger
Professorin für Kinder- und Jugendpsychologie

Bei Kindern und Jugendlichen kommen wir zu Ihrem Spezialbereich, Frau Hediger.

Einer meiner Schwerpunkte ist hier die tiergestützte Therapie, die ich als Therapeutin auch selbst ausübe. Es handelt sich um eine aussichtsreiche Möglichkeit, gerade wenn Klientinnen und Klienten nicht mit Worten sprechen können, aus welchen Gründen auch immer. Ganz generell geht es um die Möglichkeit, ein Angebot mit einer Alternative zu einer menschlichen Beziehung zu schaffen. So gibt es viele Kinder, die schwierige Beziehungserfahrungen gemacht haben – für diese ist es herausfordernd, in der Therapie Vertrauen zu einer Person aufzubauen.

Und dies ist dann durch den gezielten Einbezug von Tieren eher möglich?

Sowohl in der Forschung als auch in der Praxis sehen wir, dass Tiere eine soziale Beziehung anbieten können, auf die sich gewisse Kinder, Jugendliche, aber auch Erwachsene einfacher einlassen können. Das hat zum Beispiel damit zu tun, dass Tiere nicht nach menschlichen Massstäben werten. Es ist ihnen egal, wie jemand aussieht, ob jemand erfolgreich ist oder nicht. Vielmehr geht es einzig darum, wie die Beziehung im Hier und Jetzt gestaltet wird, also ob jemand wohlwollend auf das Tier zugeht. So ist eine ganz andere Qualität von Beziehung möglich. Auch reagieren Tiere viel sensibler auf nonverbale Kommunikation und erkennen anhand der Körpersignale, wie es jemandem geht.

Vom positiven Effekt allein durch die Anwesenheit des Tiers abgesehen – wie kann man sich eine solche Therapie vorstellen?

Das Tier stellt gewissermassen eine «Brücke» dar, damit das Kind auch eine Beziehung zu mir als Therapeutin aufbauen kann. Es kann auch als stellvertretender Sprecher eingesetzt werden, indem z.B. gefragt wird: «Was denkst du, wie es dem Tier heute geht?» Sehr oft erfolgt daraufhin eine Projektion, sodass die eigenen Gefühle auf das Tier übertragen werden: «Es hat keine Lust, es würde viel lieber spielen» – daran lässt sich dann anknüpfen.

Und was ist, wenn bspw. der Therapiehund tatsächlich einmal – als Lebewesen, wie wir Menschen auch – keine Lust hat?

Auch darauf wird Rücksicht genommen, und das kann man dann wunderbar nutzen und über eigene Bedürfnisse und diejenigen von anderen sprechen. Ebenfalls kann ich als Therapeutin das Tier sprechen lassen, wenn etwa eine Klientin, ein Klient beim Streicheln keine Grenzen kennt: «Ich glaube, Naoki hat mir grad gesagt, es wird ihm zu viel.» Das bringt eine komplett  andere Dynamik mit sich, als wenn ich dies als Mensch sagen würde. Alle diese Aspekte können enorm gewinnbringend in die Therapie einbezogen werden.

Neue Fakultät

Semester Start
Impression aus der allerersten Psychologie-Lehrveranstaltung vom 16. September mit Mirjam Senn, Lehrbeauftragte Statistik und Methoden- (Bild: ©Boris Bürgisser/Luzerner Zeitung)

Karin Hediger und Andrew Gloster (siehe Interview) sind die beiden ersten Professoren, die ihre Tätigkeit an der Fakultät für Verhaltenswissenschaften und Psychologie (VPF) aufgenommen haben. Hediger amtet zudem als Gründungsdekanin. Mittlerweile gibt es im Professorium weitere Kolleginnen und Kollegen: Matthias Ertl, ausserordentlicher Professor für Experimentelle Rehabilitationswissenschaft, Helen Wyler, Assistenzprofessorin für Rechtspsychologie mit Tenure Track, sowie Dario Cazzoli, ausserordentlicher Professor für Neuropsychologie (ab Mai 2025). Die Fakultät hat im vergangenen Herbstsemester ihren Betrieb aufgenommen – mit 154 Studierenden, die ihr Bachelorstudium in Psychologie begonnen haben.

Drei Vertiefungen im Master

Im Bachelor erlangen die Studierenden Grundkenntnisse zu den vielfältigen Themen der Psychologie. Sie lernen Inhalte und Methoden der unterschiedlichen Teildisziplinen kennen, die sie im weiterführenden Masterstudium, das direkt an den Bachelor anschliessend ab Herbst 2027 angeboten werden wird, vertiefen können. Für den Masterstudiengang sind drei Vertiefungen vorgesehen: Kinder- und Jugendpsychologie, Rechtspsychologie sowie Experimentelle Rehabilitationswissenschaft und Neuropsychologie. Die geplanten Vertiefungsrichtungen in Rechtspsychologie sowie in Experimenteller Rehabilitationswissenschaft und Neuropsychologie sind schweizweit einzigartig. Das Studium in Psychologie eröffnet vielfältige und spannende Berufsperspektiven; es besteht ein ausgewiesener Bedarf an Psychologinnen und Psychologen. Schon jetzt ist es möglich, an der Fakultät zu doktorieren. Bereits gestartet ist auch die erste Weiterbildung, der Master of Advanced Studies in Prozessbasierter Psychotherapie. Dieser qualifiziert zur eigenverantwortlichen Berufsausübung als Psychotherapeutin oder Psychotherapeut.

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