Antonius Liedhegener, Professor für Politik und Religion am Zentrum für Religion, Wirtschaft und Politik (ZRWP), fragt – Christian Höger, Professor für Religionspädagogik und Katechetik, antwortet.
Wie, wenn überhaupt, wird die junge Generation in der Schweiz den christlichen Glauben künftig ausleben? Auf die jetzige Situation bezogen, besteht in der Schweiz noch immer eine mehrheitliche Basis für die Tradierung des christlichen Glaubens: So waren 2022 rund 32 Prozent der Schweizer Bevölkerung römisch-katholisch, knapp 21 Prozent evangelisch-reformiert, und über 5 Prozent gehörten anderen christlichen Glaubensgemeinschaften an.
Allerdings zeigt die Studie «Religionstrends in der Schweiz» (2022) stabil anhaltende Entkirchlichungs- und Säkularisierungsprozesse der Schweizer Gesellschaft, was auch für Jugendliche gilt. Neben einem Vertrauensverlust gegenüber den Kirchen ist auch generell eine abnehmende Zustimmung zu religiösen Deutungsmustern zu verzeichnen. Dieser langfristige Rückgang von institutionalisierter Religion in der Gesellschaft wird auch nicht durch individuelle Religiosität wettgemacht. Insofern ist zu prognostizieren, dass in den kommenden Jahrzehnten die Anzahl junger Menschen, die das Christentum befürworten und leben, abnehmen wird. Dieses Phänomen, dass jede neue Generation etwas weniger christlich sein wird als die vorherige, weil Personen, die ohne christliche Sozialisation aufwachsen, später als Eltern auch keinen Glauben an ihre Kinder weitergeben, illustriert das Folgende: Eine 20-jährige Schweizer Studentin antwortete auf meine Interviewfrage, inwiefern Religion in ihrem Leben eine Rolle spiele: «Ich habe ja nie einer Religionsgemeinschaft angehört, meine Eltern zwar schon, bevor ich geboren wurde. Ich bin nicht getauft und habe keine Konfirmation. Ich weiss, ich werde auch nicht christlich heiraten. Also, warum sollte ich? Aber ich denke, die Fragen, die bleiben ja trotzdem. Also kein Mensch wird geboren und fragt sich nicht: Woher komme ich? Oder macht sich keine Gedanken über den Tod. Aber ich denke, ich suche halt die Antworten nicht irgendwie, wo sie schon sind. Ich bin nicht zufrieden damit. Ich will mir das selber überlegen.»
Dieses Zitat demonstriert zugleich als Facette religiöser Individualisierung (und Pluralisierung), dass auch bei fehlender substanziell-religiöser Sozialisation funktional-religiöse Suchprozesse nicht von heute auf morgen verschwinden werden. Religion in einem weiten Sinne wird für Jugendliche nach wie vor als Kontingenzbewältigungspraxis fungieren. Somit wage ich die These, dass junge Schweizerinnen und Schweizer, die in der ersten Generation nicht christlich erzogen wurden, meist nicht einfach völlig säkular sein werden. Vielmehr ist auch bei ihnen – zumindest partiell – weiterhin eine funktional-religiöse Ansprechbarkeit zu erwarten, die auch anschlussfähig für christliche Bildungsprozess an diversen Lernorten ist.
Die grösser werdende Gruppe Christentum-distanzierter junger Erwachsener wird sich ihre eignen – teilweise Religionen und religiöse Traditionen vermischenden – Antworten im Privaten medial gestützt auch jenseits der etablierten Religionsgemeinschaften suchen. Dabei ist davon auszugehen, dass auch künftig in noch so originell erscheinenden Antworten der jungen Generation oft noch Codes aus der jüdisch-christlichen Überlieferung aufscheinen werden. Neben familiärer und kirchlicher Einführung ins Christliche werden Welt-, Menschen- und Gottesbilder schliesslich in Europa auch kulturell transportiert. Und dies geschieht unabhängig davon, ob es den Einzelnen bewusst ist oder nicht.