Bernhard Rütsche, Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie, fragt – Sandra Bärnreuther Assistenzprofessorin für Ethnologie, antwortet.

Während meiner Forschung über Reproduktionsmedizin in Indien wurde mir diese Frage oft gestellt. Auf den ersten Blick mag dies paradox erscheinen, da Indien oft als Paradebeispiel für Überbevölkerung und staatliche Familienplanung angeführt wird. Tatsächlich haben Massnahmen zur Bevölkerungskontrolle eine lange Geschichte: Im Namen von wirtschaftlicher Entwicklung rief der indische Staat im Jahr 1952 das weltweit erste Familienplanungsprogramm ins Leben, das in den 1970er-Jahren sogar in Massensterilisationscamps mündete. Vor diesem Hintergrund scheint es überraschend, dass Indien bereits in den 1970er-Jahren eine führende Rolle in der Forschung im Bereich der In-vitro-Fertilisation (IVF) einnahm. Doch medizinische Arbeiten über Geburtenkontrolle und Unfruchtbarkeit waren häufig eng verflochten. Das erste staatlich finanzierte IVF-Programm am Institute of Research in Reproduction in Mumbai wurde folgendermassen begründet: Falls man Sterilisationen durch IVF «rückgängig» machen könne, würden mehr Menschen dauerhafte Familienplanungsmassnahmen akzeptieren. Nur weil IVF als eine Technologie der Bevölkerungskontrolle gedacht wurde, war staatlich geförderte Forschung zu dieser Zeit überhaupt möglich.

Politisch gesehen stand das Thema Infertilität also lange Zeit im Schatten restriktiver Bevölkerungspolitik. Dies änderte sich erst im späten 20. Jahrhundert aufgrund eines globalen Umdenkens hinsichtlich der Wichtigkeit von umfassender reproduktiver Versorgung, aber auch aufgrund der Entwicklung des medizinischen Marktes in Indien nach den ökonomischen Reformen in den 1990er-Jahren. Reproduktionsmedizin als umsatzstarker und schnell wachsender Sektor wurde nun selbst als Impulsgeber für wirtschaftliche Entwicklung gesehen (unter anderem durch den aufkommenden «Medizintourismus»). Heute befinden sich laut einer Schätzung der International Federation of Fertility Societies fast ein Viertel aller IVF-Kliniken weltweit in Indien.

Für Medizinerinnen und Mediziner mit genügend Kapital ist es mittlerweile relativ einfach, eine IVF-Klinik zu eröffnen. Nach der Standardisierung des Verfahrens in den 1980er- und 1990er-Jahren merkten viele Ärztinnen und Ärzte, dass IVF «keine Zauberei darstellt», wie eine Gesprächspartnerin dies mir gegenüber einmal treffend beschrieb. IVF ist ausserdem ein attraktives Arbeitsfeld für Gynäkologinnen und Gynäkologen, das gute Verdienstmöglichkeiten und geregelte Arbeitszeiten bietet. Zudem gibt es bisher kaum Gesetze in Indien, die den IVF-Sektor regulieren.

Allerdings sollte nicht unerwähnt bleiben, dass trotz der Expansion von IVF – mittlerweile auch ausserhalb der Metropolen – Behandlungen immer noch einer finanzstarken Elite vorbehalten sind. Die Kosten sind hoch und werden nicht von den Krankenkassen übernommen. Zudem gibt es nur wenige öffentliche Krankenhäuser, die IVF zu einem günstigeren Preis anbieten. Aufgrund des steigenden Einkommens in Indien sowie der hohen Nachfrage nach Reproduktionstechnologien kann jedoch davon ausgegangen werden, dass der IVF-Markt auch in Zukunft weiter wächst.

Foto Sandra Baernreuther

Sandra Bärnreuther

Assistenzprofessorin für Ethnologie. Das aus diesem Forschungsprojekt hervorgegangene Buch «Substantial Relations. Making Global Reproductive Medicine in Postcolonial India» erscheint im Dezember bei Cornell University Press, Ithaca.
unilu.ch/sandra-baernreuther

Im Gefäss «Gefragt? Geantwortet!» stellen sich Forschende im Domino-System disziplinübergreifend Fragen und beantworten diese. Antwort des Fragestellers, Professor Bernhard Rütsche, auf die vorherige Frage