Die Bedeutung von China für Luzern und die Zentralschweiz ist gross – und die Beschäftigung mit der Volksrepublik, auch die rechtsvergleichende Perspektive darauf, herausfordernd. Dabei gilt es, verschiedene Fallstricke zu vermeiden.

Blick auf die ostchinesische Millionenstadt Nanjing. 28 chinesische Städte sind bevölkerungsreicher als die gesamte Schweiz, 19 haben eine grössere Ausdehnung. (Bild: istock.com/yanga)

Touristisch gesehen ist Luzern einer der Höhepunkte chinesischer Europareisen. Die Kaufkraft der Asiatinnen und Asiaten wiederum ist wichtig für die Luzerner Luxusläden. Auch in anderen Bereichen bestehen wirtschaftliche Verflechtungen. So gründete der Luzerner Aufzugsbauer Schindler 1980 das erste Joint Venture eines westlichen Unternehmens in China. Nicht zu vergessen ist der kulturelle Austausch. Der ehemalige Vizepräsident dieses Schindler-Joint-Ventures nämlich – Uli Sigg, Schlossherr auf Mauensee – gilt als weltweit bedeutendster Sammler zeitgenössischer chinesischer Kunst.

Massgebende Unterschiede

So zum Greifen nah China durch die Touristinnen und Touristen in der Leuchtenstadt auch scheint: Wer sich eingehender mit der Volksrepublik beschäftigt, sieht sich bald mit Unvertrautem und grosser Komplexität konfrontiert. Dies gilt auch für die Untersuchung des chinesischen Rechts im Rahmen der Auslandsrechtskunde und Rechtsvergleichung. Das Rechtssystem funktioniert in China nämlich nach ganz anderen Grundprinzipien als in der Schweiz und meinem Heimatland Deutschland. Auch ist das Recht in einen ganz anderen praktischen – also institutionellen, politischen, gesellschaftlichen und kulturellen – Kontext eingebettet. 

Diese Diversität ist auch für mein Dissertationsprojekt massgebend. In diesem untersuche ich die Rechtsetzungsbefugnis der Städte in China und Deutschland, mit Bezügen zur Schweiz. Die Städte in China und im deutschsprachigen Raum unterscheiden sich nicht nur empirisch, was etwa die Bevölkerungszahl, das Stadtgebiet und die städtebauliche Gestaltung angeht. Auch ihre Stellung im Rechtssystem ist verschieden. Erstens sind Städte – die in der Schweiz und Deutschland als Gemeinden Selbstverwaltung geniessen – in China dem sogenannten demokratischen Zentralismus ausgesetzt. Daher müssen sie den Vorgaben übergeordneter staatlicher Ebenen, insbesondere der Zentralregierung folgen. Diese Vorgaben umfassen, zweitens, nicht nur – wie in der Schweiz und Deutschland – das höherrangige Recht, sondern auch die offizielle Ideologie des Sinomarxismus. Hierbei gilt, drittens, das Prinzip der Führung durch die Partei. Darum haben die staatlichen Organe der Städte (Volkskongress und Volksregierung) den Organen der Kommunistischen Partei Chinas (KPC) auf zentraler und lokaler Ebene stets Folge zu leisten.

Warum geniessen manche Städte in China trotz der zahlreichen Vorgaben mehr Freiheiten als in der Schweiz?

Weder Euro- noch Sinozentrismus

Wichtig ist, die vielen Differenzen nicht als unüberbrückbar und China nicht als essenziell Anderes oder Fremdes darzustellen. Drei übliche Tendenzen sind daher zu vermeiden: erstens der Eurozentrismus und der Orientalismus, die das westliche Recht als Massstab nehmen und daraus Lücken und Mängel des chinesischen Rechts ableiten. Zweitens der Sinozentrismus, der genau umgekehrt das westliche Recht als dem chinesischen Recht unterlegen und daher einer Sinisierung bedürftig ansieht. Drittens auch der Kulturrelativismus, laut dem westliche Forschende das chinesische Recht niemals verstehen und durchdringen könnten, weil sie nicht Teil seiner Interpretationsgemeinschaft seien. Der (von allen drei Tendenzen herangezogene) Topos vermeintlicher chinesischer Besonderheiten ist daher durch eine tiefgehende Analyse und fundierte Bewertung der Unterschiede im Detail zu ersetzen.

Zu diesem Zweck schlage ich in der entstehenden Dissertation eine neue Methode namens Theoriebasierte Rechtvergleichung vor. Diese macht die Erkenntnisse anderer Wissenschaften in der Rechtswissenschaft fruchtbar – und zwar in Form von sozial- und geisteswissenschaftlichen Theorien. Diese Theorien dürfen weder ethnozentrisch noch simplifizierend, sondern müssen interkulturell einsetzbar und mittleren Abstraktionsgrades sein. Erst so bilden sie eine sinnvolle Basis, um das Recht in China, in der Schweiz bzw. in Deutschland möglichst unvoreingenommen und tiefgehend zu analysieren. Ich ziehe zum Beispiel die Theorie heran, dass Städte als Agenten des Zentralstaats, als Prinzipale im Eigeninteresse oder als Repräsentanten ihrer Bevölkerung fungieren können. Diese Funktionen lassen sich in der städtischen Rechtsetzung sowohl in China als auch in der Schweiz und in Deutschland auffinden. Meine Rechtsvergleichung fragt daher, zu welchem Grad diese drei theoretischen Funktionen in der jeweiligen Rechtsordnung verwirklicht sind.

Vor Ort gehen unabdingbar

Vorbedingung einer gelungenen Rechtsvergleichung ist, sich intensiv mit dem zu untersuchenden Land auseinanderzusetzen. Daher ist jedem zu empfehlen, der sich für China interessiert: hinreisen, das Land erleben und allfällige Vorurteile abbauen. Wenn es einem gefällt: für längere Zeit dort leben und studieren (Stipendien aus der Schweiz und Deutschland gibt es zuhauf). Die Sprache lernen. Und natürlich: sich mit Chinesinnen und Chinesen austauschen und anfreunden.

Philipp Renninger

Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl von Rechtsprofessor Sebastian Heselhaus. Während des Studiums verbrachte er ein Jahr an der Universität Nanjing. Renninger führt seine Dissertation im Rahmen einer «Cotutelle de thèse» (gefördert durch das SBFI) in Luzern und an der Universität Freiburg i. Br. durch. Für einen Essay zu den Methoden seiner Doktorarbeit hat er den Nachwuchsförderpreis der Gesellschaft für Rechtsvergleichung 2019 erhalten.

unilu.ch/philipp-renninger