Theologie im Schatten des Kultur- und Kongresszentrums Luzern

Der Frage nach der Verhältnisbestimmung von Musik und Theologie kam bislang eine eher untergeordnete Rolle zu. Hier setzt ein Forschungsprojekt an der Theologischen Fakultät an.

Prof. Dr. Wolfgang W. Müller beim KKL Luzern, das unmittelbar neben der Universität Luzern (hinten) steht. (Bild: Bruno Rubatscher)

Wie verhalten sich eigentlich Musik und Theologie zueinander? Dieser Fragestellung kommt am Lehrstuhl von Prof. Dr. Wolfgang W. Müller, Professor für Dogmatik, seit längerer Zeit ein besonderes Interesse zu. Theologie ist primär an das Wort gebunden, Musik dagegen ist "sprachlos". Für Theodor W. Adorno ist die Musik anderen Typs als die meinende Sprache. Sie zielt auf eine intentionslose Sprache, die mit der gesprochenen und geschriebenen Sprache in einer Dialektik steht. In ihrer Eigenständigkeit als Sprache zeigt sie das Bestimmte als Verborgenes und als Erscheinendes zugleich. Hierin liegt für Adorno der implizite theologische Charakter der Musik. Bislang wurde Musik einzig als Medium der Vergegenständlichung eines normierenden Textes des Glaubensgutes begriffen. So verstand die katholische Tradition Musik als reines Beiwerk und reine Dekoration zu den normierenden Texten der Glaubensgemeinschaft (musica sacra). In der reformierten Tradition wird der Musik von Anfang an eine Eigenständigkeit zugesprochen, allerdings bleibt sie ebenso dem (geoffenbarten) Wort untergeordnet.

In der Moderne lassen sich gewisse Modifikationen im Verhältnis von Musik und Theologie beobachten. Einerseits ist es ein Kriterium der Moderne, dass sich die Musik vom Kirchlich-Religiösen emanzipiert, andererseits bezieht die musikalische Produktion in ihren eigenen Reflexionsprozess das Religiöse mit ein. Dieser eigenständige Umgang mit religiösen Texten ist zwar durchaus produktiv, allerdings entsteht zugleich auch eine Distanz zu traditionellen theologischen Aussagen. Die normierenden Texte der kirchlichen Glaubenstradition werden im Akt des Komponierens sowie im Vollzug des Hörens gewissen Veränderungen unterworfen. Es findet eine Transformation durch die subjektive Religiosität statt. Soll das Unternehmen verfolgt werden, Musik als Ort theologischer Erkenntnis zu verorten, so sind verschiedene heuristische Vorfragen methodisch zu klären. Es muss die Grundfrage verhandelt werden, wie Musik zu verstehen ist.

Rational nur bedingt erfassbar

Wo Menschen zusammenleben, wird gesungen oder musiziert. Musik ist dem Menschen eigen. Sie bildet ein Instrument menschlicher Kommunikation und Interaktion. Singen und Musizieren sind Ausformungen dieses kommunikativen Verhaltens. Die Musik ist stets kontextuell in die jeweilige raum-zeitlich bedingte, soziokulturelle Situation eingebunden. Singen und Musizieren sind tonal, rhythmisch und dynamisch geprägt. Sie werden primär nicht über den Verstand rezipiert, sondern in ihrer Wirkung und Aussage emotional erfasst. Musik ist letztlich ein dialogales Geschehen. Die aktuelle Ritenforschung betont neben der Bedeutung des Ritus als Kommunikation mit dem Göttlichen auch die soziale und kulturelle Funktion der Riten.

Musik wird als Prozess und gleichzeitig als Ergebnis von Handlungen verstanden, durch die Töne, Klänge, Geräusche oder Bewegungen kreativ erzeugt, wahrgenommen, geordnet, überliefert und bewertet werden. Als ästhetisches Kunstwerk einer kulturspezifischen Kommunikations- und Integrationsform gibt sie Erfahrungen von existenzieller Bedeutung wieder, die sich einem exklusiv rationalen Verstehen entziehen. Diese Erfahrungen manifestieren sich im ganzheitlichen Verhalten und wollen mitgeteilt werden. Musik in ihrem gegenstandslosen Ausdruck versteht sich als Chiffre für die grenzenlose Offenheit des Menschen. Das ästhetische Erleben von Musik (sowohl praktizierend als auch hörend) versteht Ernst Bloch als Symbol für die Identität des Menschen: Die Musik ebnet den Weg zur Individualität. Dieser Weg zum eigenen Ich wird von aussen vermittelt. Das Erfahren von Musik wird daher als eine Form des Verstehens betrachtet. Hans Zender spricht der Musik die Funktion der Individuation zu. Musik – in einer rezeptionsästhetischen Perspektive verstanden – muss stets zwei Aspekte berücksichtigen: einerseits den Aspekt des Musikmachens, andererseits denjenigen des Musikhörens und -verstehens. Carl Dahlhaus spricht deswegen von einer doppelten Bewegung, die es zu unterscheiden gilt und die doch stets zusammen gedacht werden muss. Hermeneutisch geht es um die Momente "Vollzug" und "Verstehen des Vollzugs". Das primäre Verstehen (= Musik hören) wird durch ein artifizielles Verstehen abgelöst. Man muss beides zusammen sehen. Es ist gleichsam ein "Sprachspiel": Verstehen heisst demnach «verstehen von etwas» (= Musik).

Öffentliche und gesellschaftliche Dimension

Die Betrachtung der Wirkungsgeschichte beinhaltet zweierlei Momente: a) Musik und ihre Aufführungspraxis sowie b) sekundäre, literarische Reflexion. Das Bedenken des Vollzugs der Musik ist in dieser hermeneutischen Perspektive kein additives Element, sondern das Denken "über" Musik ist selbst ein Teil der "Sache selbst". Das Phänomen Musik kann verstanden werden als Aneignung einer sowohl musikalischen als auch musikalisch-sprachlichen (oder musikalisch-literarischen) Tradition: eine Überlieferung, in der die "Interpretation" als "Musik machen" und die "Interpretation" als "Musik auslegen" ineinanderfliessen. Musik als universale Kommunikationsform hat deswegen eine öffentliche und gesellschaftliche Dimension. Die Verschränkung von Musik und Theologie kann sich in vielfältigen Formen der Vermittlung, der Verfremdung, der Verblendung und der Instrumentalisierung manifestieren. Musik unterliegt jedoch nicht nur den funktionalen und nützlichen Beschäftigungen menschlichen Daseins, sondern repräsentiert zugleich ein Zeichen von Gratuität. Die Musik schreibt sich damit auch in die Dialektik menschlichen Erkennens von Rezeptivität und Spontaneität ein. Diese Elemente machen einsichtig, weshalb Musik in Kult und Religion beheimatet ist.

Musik ist in der Moderne eine vom Kult emanzipierte Kunst und stellt somit eine autonome Wirklichkeit dar (Johann Sebastian Bach vs. Luciano Berio!). Eine Reflexion über Musik bedarf stets der philosophischen Komponente und ist als Manifestation des Geistes nicht als rein sinnliches Klangphänomen aufzufassen. Die Musik als "nicht lesbare Schrift» oder als "Nichtdenken bei grösster geistiger Wachheit" (Hans Zender) verweist auf ihr ganzheitliches wie integratives Potenzial für das menschliche Zusammenleben. Sie lässt sich unter dem Aspekt des Spielästhetischen betrachten. Der "musikalische Sinn" leistet unter anderem eine hermeneutisch akzentuierte Rezeptionsästhetik mit Blick auf den epistemischen Stellenwert der Musik für die Theologie. Ist dem modernen Menschen die erste Naivität abhandengekommen, so ist es ein Postulat der Hermeneutik, sich durch die symbolischen Bezüge menschlichen Lebens auf den Weg zu einer "zweiten Naivität" (Paul Ricoeur) zu machen, die durch Reflexion, Spekulation und Einbildungskraft hindurch die Rationalität des Grundes des Daseins entdeckt. Versteht man Religion im Sinne eines "way of life", so können drei Dimensionen des Religiösen ausgemacht werden: a) Transzendenzbezug, b) Ich-Bezug, c) Bezug zur Mit- und Umwelt. In dieser Perspektive kann Religion als eine der ältesten Kulturtechniken begriffen werden (Jan Assmann). Religion, verstanden als etwas, das (mich) unbedingt angeht (Paul Tillich), fragt nach Sinn und Funktion von Religion für das Individuum in seinem jeweiligen soziokulturellen Kontext.

Forschungssemester in Paris

Der hermeneutischen Frage nach dem Verhältnis von Theologie und Musik geht der Lehrstuhl für Dogmatik in Lehre und Forschung nach. Vorlesungen und Seminare werden angeboten, zum Teil auch in Verbindung mit der Hochschule Luzern – Musik. Im Frühjahrssemester 2014 verbrachte Prof. Dr. Wolfgang W. Müller ein Forschungssemester in Paris, um über den Bezug von Musik und Theologie im Werk Olivier Messiaens zu forschen. Im Frühjahr 2015 erschien im Grünewald Verlag der Sammelband "Theologie in Noten. Werkerschliessung und Reflexionen" (mehr Informationen unten). 

 

Quelle: Jahresbericht der Universität Luzern 2014, Mai 2015.
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