Schöpfer der Thesen von Seelisberg im Fokus

Vor 70 Jahren fand in Seelisberg UR die Dringlichkeitskonferenz gegen Antisemitismus statt, aus der zehn bahnbrechende Thesen hervorgingen. Deren geistiger Urheber geriet im deutschen Sprachraum fast in Vergessenheit – das soll sich nun im Rahmen eines Forschungsprojekts ändern. 

Gesicht in der Menge – und doch so viel mehr: Jules Isaac (hervorgehoben) auf dem Gruppenbild mit den Teilnehmenden der Seelisberg-Konferenz (Ausschnitt).

Man kann ihn auf dem Gruppenbild mit den rund 65 Teilnehmenden der Seelisberg-Konferenz nur schwer ausmachen: Jules Isaac steht beinahe am linken Bildrand in einer hinteren Reihe und wird durch das Gesicht eines Vordermanns halb verdeckt. "Dass er sich als Person nicht in den Mittelpunkt drängen wollte, wozu es allerdings durchaus Berechtigung gegeben hätte, ist typisch für Isaac", sagt Prof. Dr. Verena Lenzen mit Blick auf das historische Foto. Es handelt sich um eines der wenigen Bildzeugnisse der Konferenz, die vom 30. Juli bis 5. August 1947 im Hotel Kulm, das rund 400 Meter über dem Urnsersee thront, durchgeführt wurde.

Die Zusammenkunft, an der prominente Vertreterinnen und Vertreter jüdischer und christlichere Organisationen aus 19 Ländern teilnahmen, war ein "Gründungsereignis jüdisch-christlicher Verständigung im 20. Jahrhundert", auf das die Schweiz stolz sein könne, wie Lenzen, Leiterin des Instituts für Jüdisch-Christliche Forschung (IJCF), ausführt: "Sie legte die Basis für die Konzilserklärung 'Nostra Aetate' 1965 der katholischen Kirche, die einen grundlegenden Wandel der Sicht auf das Judentum markierte."

Durchbruch bei Papstaudienz

Sowohl was die Konferenz als auch die Wegbereitung für die kirchliche Erklärung anbelangt, nahm der Franzose Jules Isaac (1877–1963) eine zentrale Rolle ein. "So war er der eigentliche Urheber der zehn Thesen von Seelisberg. In diesen wurde beispielsweise – geradezu revolutionär zu jener Zeit – auf die jüdische Abstammung von Jesus und Maria aufmerksam gemacht", so Verena Lenzen. "Auch ist es massgeblich seinem weiteren Engagement und der Privataudienz bei Papst Johannes XXIII. 1960 zu verdanken, dass es fünf Jahre später mit 'Nostra Aetate' zur geradezu Kopernikanischen Wende im Verhältnis der Kirche zum Judentum kommen konnte." Leider hätten dies sowohl Johannes XXIII. als auch Isaac nicht mehr persönlich miterlebt. "Aufgrund seiner Verdienste um die jüdisch-christliche Verständigung ist es erstaunlich, dass Jules Isaac zumindest im deutschen Sprachraum fast völlig in Vergessenheit geraten ist." Das möchte Verena Lenzen mit einer Biografie über den jüdischen Historiker und Pazifisten, die sie zurzeit verfasst, ändern.

Die geplante Monografie ist Teil des von ihr geleiteten, vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) geförderten Forschungsprojekts zur Konferenz von Seelisberg, das zwei Dissertationsprojekte umfasst. Rabbiner Jehoschua Ahrens forscht über die Anfänge des jüdisch-christlichen Dialogs in der Schweiz und Europa, und Martin Steiner befasst sich in seiner Doktorarbeit mit der Konferenz aus theologischer Perspektive. Vor dem Hintergrund des 70. Jahrestags der Seelisberg-Konferenz findet am 19./20. Oktober eine wissenschaftliche Tagung zum Thema statt, in dem unter anderem das bis im Herbst 2018 dauernde SNF-Projekt und erste Ergebnisse vorgestellt werden (siehe Hinweis).

"Das reinste Forscherglück"

Prof. Dr. Verena Lenzen

Zurück zu Jules Isaac: "Es handelt sich um ein Jahrhundertleben, das von revolutionären Ereignissen, Entdeckungen und Krisen, die auf tragische Weise auf die eigene Biografie einwirkten, geprägt war", fasst Prof. Lenzen zusammen. Sie ist kürzlich von einem längeren Forschungsaufenthalt im südfranzösischen Aix-en-Provence zurückgekommen, wo der Nachlass des dort verstorbenen Isaac archiviert ist. "Es war das reinste Forscherglück", bilanziert die Professorin für Judaistik und Theologie / Christlich-Jüdisches Gespräch, die seit 2001 an der Universität Luzern forscht und lehrt. Nicht nur sei enorm viel Material erhalten, auch habe man ihr auf sehr unbürokratische und hilfsbereite Weise Zugang zu den wissenschaftlich noch kaum aufgearbeiteten Dokumenten gewährt. "Eine solche Arbeitsweise wäre bald nicht mehr möglich gewesen, da der gesamte Nachlass nach Paris an die Bibliothèque Nationale geht."

Geboren im nordfranzösischen Rennes, wächst Jules Isaac in einem bürgerlich-nationalen, jüdisch-assimilierten Milieu auf. Als er 14 Jahre alt ist, versterben innerhalb einer Woche beide Eltern; Isaac besucht fortan als Internatsschüler ein Elite-Gymnasium bei Paris, das einer Militärkaserne gleicht. Trost findet er beim fünf Jahre älteren Charles Péguy, dessen Ideale ihn ein Leben lang begleiten. Der Freund, inzwischen Schriftsteller geworden, fällt im Ersten Weltkrieg; auch Isaac, der mittlerweile als Geschichtslehrer arbeitet, wird schwer verwundet. Diese Erfahrungen schlagen sich in den darauffolgenden vier Jahrzehnten in seiner Tätigkeit als Redaktor für Schulbücher für den Geschichtsunterricht nieder, in denen er die nationalistisch geprägte Färbung revidiert und eine Perspektive von zwei Standpunkten aus einführt. Das zweite grosse Trauma im Leben Jules Isaacs ereignet sich 1943, als seine Familie deportiert wird. Seine Frau und seine Tochter werden in Auschwitz ermordet. Er entkommt durch Zufall – dass er sich nicht selbst ausliefert, ist einem letzten Schreiben seiner Frau aus dem Lager Drancy zu verdanken, die ihn bittet, "das Werk zu vollenden, das die Welt erwartet". Entsprechend sieht Isaac seine Mission künftig in der Bekämpfung des Antisemitismus; den Grundstein dafür und für die zehn Thesen von Seelisberg legt er mit dem während seiner Flucht geschriebenen Buch "Jésus et Israël".

Ungebändigte Leidenschaft für die Wahrheit

"Beim Recherchieren im Archiv und bei der Lektüre der zahlreichen traurig machenden Zeitzeugnisse habe ich mich oft gefragt, wie ein Mensch, der so viele Katastrophen durchmachen musste, dennoch so viel Optimismus schöpfen und tatsächlich auf eine Veränderung des Verhältnisses zwischen Christen- und Judentum hoffen konnte", sagt Verena Lenzen. Die Antwort sei wohl in seiner ungebändigten Leidenschaft für die Wahrheit und dem rigorosen Einstehen dafür zu suchen. Übrigens: Bei Isaac handelte es sich um die einzige Person, die auf der Teilnehmerliste der Seelisberger Konferenz keine Religionszugehörigkeit angab Dies, da er sich zu keiner institutionellen Glaubensgemeinschaft bekennen wollte. Lenzen: "Jules Isaac war ein Humanist ohne religiöse Etikettierung."

Am 19./20. Oktober 2017 findet an der Universität Luzern die wissenschaftliche Tagung "70 Jahre Konferenz von Seelisberg (1947)" statt. Diese wird vom Institut für Jüdisch-Christliche Forschung in Kooperation mit dem Stuttgarter Lehrhaus, Stiftung für interreligiösen Dialog, durchgeführt. Am ersten, öffentlichen und kostenlos besuchbaren Teil vom 19. Oktober stehen – nach Grussworten von Vertretern der Schweizerischen Bischofskonferenz (SBK), des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG) und des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes (SEK) – verschiedene Vorträge sowie am Abend die Präsentation der Neuerscheinung "Hin zu einer Partnerschaft zwischen Juden und Christen" auf dem Programm. Der 20. Oktober richtet sich mit Workshops an die Studierenden. Mehr Informationen zur Tagung und die Möglichkeit zur Anmeldung folgen auf dem Website-Bereich des IJCF und im universitären Veranstaltungskalender

Früherer Artikel zum Thema im Rahmen des Starts des SNF-Projekts