An der Schnittstelle von Recht Ökonomie und Philosophie

Das Forschungsprojekt "Economic Analysis in Regulation and Legal Reasoning" ist konsequent interdisziplinär angelegt. Im Zentrum steht die Ökonomische Analyse des Rechts.

Prof. Dr. iur. Klaus Mathis (links) und lic. phil. Ariel Steffen.

Das vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) unterstützte Forschungsprojekt "Economic Analysis in Regulation and Legal Reasoning" wird an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät unter der Leitung von Prof. Dr. Klaus Mathis durchgeführt. Zwei Dissertationsprojekte untersuchen dabei die Funktion ökonomischer Methoden im Recht. Das Teilprojekt A "The Philosophical and Behavioural Foundations of Cost-Benefit Analysis" setzt den Fokus auf die Rechtsetzung, das Teilprojekt B "Economic Arguments in Legal Reasoning" auf die Rechtsanwendung.

Ist Handlungsfreiheit möglich?

"Malo periculosam libertatem quam quietum servitium" ("Ich mag die gefährliche Freiheit lieber als die ruhige Knechtschaft"), zitierte Jean-Jacques Rousseau 1762 den Pfalzgrafen von Posen in seinem Werk «Du contrat social». Doch was ist Freiheit? Das gängigste, vermeintlich einfachste Konzept der Freiheit ist die Handlungsfreiheit. Das heisst die Freiheit, so zu handeln, wie wir wollen. Aber können wir das überhaupt?

Daniel Kahneman und Amos Tversky haben in den späten 1970er-Jahren gezeigt, dass kognitive Verzerrungen Menschen oft daran hindern, optimale Entscheidungen zu treffen und ihren Nutzen langfristig zu maximieren. In seinem Buch "Thinking, Fast and Slow" (2011) unterscheidet Kahneman zwei Systeme des menschlichen Denkens: "System 1 operates automatically and quickly, with little or no effort and no sense of voluntary control." Hier geht es um den intuitiven Denkmodus, bei dem Urteile schnell und unwillentlich gefällt werden. "System 2 allocates attention to the effortful mental activities that demand it, including complex computations. The operations of System 2 are often associated with the subjective experience of agency, choice, and concentration." Bei diesem System handelt es sich um den rationalen Denkmodus, bei dem Urteile auf der Basis gründlicher Überlegungen gefällt werden, die eine gewisse Zeit erfordern.

Schnell – und fehleranfällig

Beide Denkmodi haben ihre Vor- und Nachteile. Das rationale Überlegen in Denkmodus 2 ermöglicht uns, ein Problem gründlich zu analysieren und wohlbedachte Entscheidungen zu treffen. Allerdings bedingt dies Konzentration und Zeit. Denkmodus 1 hat den Vorteil, dass er kaum Zeit benötigt und geradezu mühelos abläuft. Es sind kognitive Faustregeln, sogenannte Heuristiken (heuristics), die grundsätzlich nützlich, wenn nicht sogar notwendig sind, um komplexe Situationen im Alltag ohne grossen Zeitaufwand zu meistern. Manchmal führt ihre Anwendung aber zu schwerwiegenden systematischen Fehlern (biases). So wie optische Wahrnehmungsverzerrungen Fehleinschätzungen der Realität bewirken können, haben mentale Heuristiken unter Umständen falsche Beurteilungen zur Folge. Kognitive Verzerrungen stellen beispielsweise das Status-quo-Bias (Präferenz des Istzustandes) oder die Verlustaversion (Verluste werden höher gewichtet als Gewinne) dar. Mehrere empirische Studien haben unabhängig voneinander die Existenz systematischer kognitiver Verzerrungen bestätigt. 

Staatliches "Anschubsen"

Aus rechtlicher Sicht stellt sich die Frage, ob der Staat darauf hinwirken soll, diese systematischen Verzerrungen der Individuen zu korrigieren (debiasing). Cass R. Sunstein und Richard Thaler schlugen unter dem Begriff "nudging" einen libertären Paternalismus – das heisst Paternalismus ohne eigentlichen Zwang – vor. Dieses "Anschubsen" in die gewünschte Richtung geschieht beispielsweise über die Festlegung von Default-Regeln. Ein klassisches Beispiel hierfür ist die Widerspruchslösung bei der Organspende. Gemäss dieser sind alle Menschen nach ihrem Tod grundsätzlich Organspenderinnen und Organspender – ausser sie entscheiden sich zu Lebzeiten ausdrücklich dagegen. Doch wer bestimmt, welches Verhalten erwünscht und daher "richtig" ist? Verfügt der Staat über die notwendigen Informationen, um die kognitiven Verzerrungen korrekt auszugleichen? Wo verläuft die Grenze zwischen aufklärendem Paternalismus, Manipulationund Indoktrination? Inwiefern soll man den Menschen vor sich selber schützen? Verleitet mehr Lenkung zu Unmündigkeit? Haben Fehlentscheide einen Nutzen? Was ist die Aufgabe des Gesetzgebers? Mit diesen Fragen an der Schnittstelle von Recht, Ethik, Psychologie und Ökonomie beschäftigt sich das Teilprojekt A.

Ziel des Projekts ist es, zunächst zurück zu den philosophischen Ursprüngen einer holistischen Ökonomie zu gelangen, um von da aus ein Wohlfahrtskonzept zu entwickeln, welches der conditio humana sowohl in rechtsethischer als auch in wirtschaftspsychologischer Hinsicht entspricht. Dabei wird insbesondere die Trias "individuelles Wohlbefinden" (im psychologischen Sinn), "öffentliches Interesse" (im rechtswissenschaftlichen Sinn) und "Wohlfahrt" (im ökonomischen Sinn) berücksichtigt. Es erfolgt die Erörterung der Frage des "guten Lebens" im aristotelischen Sinn der Eudämonie, wie sie unter anderem Amartya Sen und Martha Nussbaum im Fähigkeitenansatz (capabilities approach) wieder aufgegriffen haben. Durch die Verknüpfung fachspezifischer Perspektiven sollen neue, fachübergreifende Erkenntnisse gewonnen werden. Besonderes Augenmerk legen die Forschenden darauf, ob, und wenn ja, wie der Gesetzgeber seinen Gestaltungsspielraum nutzen kann und soll, um das individuelle und gesellschaftliche Wohl zu fördern.

Ökonomische Argumente

Dem Teilprojekt B liegt die Hypothese zugrunde, dass sich Gerichte bei ihren Urteilen nicht selten von ökonomischen Überlegungen leiten lassen, wie folgendes Beispiel illustriert: Art. 32 des Krankenversicherungsgesetzes (KVG) verlangt, dass die von der obligatorischen Krankenversicherung gedeckten Leistungen wirtschaftlich sein müssen. Beim Bundesgerichtsentscheid BGE 136 V 395 hatte das Bundesgericht die Frage zu beurteilen, ob die Kosten einer Patientin für das Medikament Myozyme zur Behandlung der Erbkrankheit Morbus Pompe von der Krankenversicherung zu übernehmen seien. Das Gericht wog die Kosten für das Medikament, die rund 500'000 Franken pro Jahr betrugen, gegen den Wert eines geretteten Menschenlebensjahres ab. Aus der Urteilsbegründung geht hervor, dass das Bundesgericht anscheinend maximal rund 100'000 Franken für die Rettung eines Menschenlebensjahres als angemessen erachtet. Kostet die Rettung eines Menschenlebensjahres mehr, muss die Behandlung folglich von der Krankenkasse nicht übernommen werden, da die Leistung das Wirtschaftlichkeitserfordernis des KVG nicht erfüllt.

Das Gericht stützte sich zusätzlich auf das verfassungsrechtlich verbürgte Gebot der Rechtsgleichheit, um eine Generalisierungsüberlegung anzustellen: Müsste man allen Betroffenen mit Morbus Pompe oder anderen seltenen Krankheiten eine entsprechend teure Therapie finanzieren, bräche das ganze Krankenversicherungssystem zusammen. Das Gericht wollte offenbar seine Entscheidung zusätzlich mit einer nicht ökonomischen Begründung untermauern, obwohl es das Urteil allein mit der Kosten-Nutzen-Analyse in Übereinstimmung mit dem KVG hätte begründen können.

Ziel des zweiten Teilprojekts ist es, weitere Gerichtsentscheidungen zu untersuchen und Fallgruppen zu bilden: Während sich die ökonomische Argumentationsweise im Myozyme-Urteil aufgrund der direkten Verweisung auf die Wirtschaftlichkeit im KVG ergibt, liegt die Vermutung nahe, dass beispielsweise auch Folgenüberlegungen ökonomische Argumente einschliessen können. Nicht zuletzt sind auch Fälle möglich, bei denen aufgrund des Sachverhalts zwar offensichtlich ist, dass ihnen Knappheitsprobleme zugrunde liegen, in der rechtlichen Argumentation ökonomische Überlegungen aber gleichwohl nicht zur Sprache kommen. Deshalb werden die ausgewählten Fälle im Licht der ökonomischen Theorie rekonstruiert und die Ergebnisse der ökonomischen Analyse mit den tatsächlichen Urteilsbegründungen systematisch verglichen. Teilprojekt A bearbeitet lic. phil. Ariel Steffen, Teilprojekt B wird im Verlaufe des Jahres 2014 in Angriff genommen.

 

Quelle: Jahresbericht der Universität Luzern 2013, Juni 2014.
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