Christian Höger, Professor für Religionspädagogik und Katechetik, fragt – Anne Beutter, Oberassistentin am Religionswissenschaftlichen Seminar, antwortet.

(Bild: ©istock.com/malerapaso)

Welche Chancen und Grenzen liegen in der Kartierung lokaler religiöser Vielfalt in Form von Mapping-Projekten? – Solche sogenannten Religion-Mappings schossen in den 2000er- und frühen 2010er-Jahren wie Pilze aus dem Boden. Karten der lokalen Religionslandschaft, die religiöse Gemeinschaften mit bunten Symbolen, nach religiöser Tradition kategorisiert, im Raum verorten, sind ein gängiges Modell geworden, wie wir uns «lokale religiöse Vielfalt» vorstellen. Fragt man nach Chancen und Grenzen dieser Darstellungsform, muss man auf den Entstehungszusammenhang schauen: Die Mappings zielten von Anfang an auf Wissenstransfer. Sie adressierten die Öffentlichkeit und wollten den hochemotional geführten Debatten um sogenannte «Sekten», um religiösen Fundamentalismus und um Migration etwas entgegensetzen. Man wollte Daten zu Häufigkeit, Verteilung oder Grösse von Religionsgemeinschaften liefern, um den Diskurs endlich auf einen sachlichen, empirischen Boden zu stellen. 

Das Bild, das entstanden ist, zeigt die Vielfalt der Gemeinschaften eher als Bereicherung für die Gesellschaft denn als Bedrohung der Ordnung und das «Neue» als im Grunde «normal». Gerade langfristige Projekte sind zu Referenzgrössen geworden, auf die insbesondere Schulen gerne Bezug nehmen. Wo religionswissenschaftliche Kartierungen religiöser Vielfalt von staatlicher Seite zur Kenntnis genommen oder gar in Auftrag gegeben werden, bieten sie Grundlagen für faktenbasierte Entscheidungen für zeitgemässe Religionspolitik. Eine Chance der Karten ist damit, dass sie gerade kleine und neue Religionen als gleichwertigen und legitimen Teil der Religionslandschaft überhaupt erst sichtbar machen. Das wirkt emanzipatorisch und bietet Ansatzpunkte für Partizipation. Gleichzeitig stecken in jeder Kartierung immer auch Machtverhältnisse: Sie anerkennen und unterwerfen, sie machen sichtbar und schliessen aus. 

Damit muss man auch fragen: Welches spezifische Bild von religiöser Vielfalt präsentiert dieses Modell? Ganz klar steht hier organisierte Religion im Zentrum. Es macht innerreligiöse Vielfalt – insbesondere im christlichen Spektrum – augenfällig, und wiederholte Mappings für dasselbe Gebiet machen die ständige Fluktuation im religiösen Feld deutlich; überdies entstehen wertvolle Quellen für lokale Religionsgeschichte. Andere Gesichtspunkte, die für die Struktur und Dynamik lokaler religiöser Vielfalt ebenso wichtig sind, bleiben hingegen aussen vor. Dies gilt speziell für Praxisformen, die sporadisch, im Privaten oder digital operieren. Auch die Vielfalt an Frömmigkeitsstilen, welche die Religionslandschaft quer durch verschiedene Traditionen strukturiert, wird erst auf den zweiten Blick sichtbar. 

Der Wirkungsbereich des Religiösen ist kein abgrenzbarer Teilbereich, wie es die Punkte auf den Karten nahelegen könnten. Religionswissenschaft erschliesst «Religiöses» vielmehr gerade in seiner konstitutiven Verbindung mit Politik, Kultur, Wirtschaft, Recht usw. Ist man sich bewusst, was die Kartierungen liefern und was nicht, kann man sagen: Durch ihr dokumentarisches Anliegen und den vergleichenden Blick, der Dominantes und Stabiles ebenso einschliesst wie das Unspektakuläre und Improvisierte, produzieren sie eine Fülle an Daten, die dazu beitragen können, Religion und deren Vielfalt gerade über diese Abgrenzungslogik hinauszudenken.

«cogito»-Beitrag zum Kartografieprojekt am Religionswissenschaftlichen Seminar

Foto Anne Beutter

Anne Beutter

Oberassistentin am Religionswissenschaftlichen Seminar
unilu.ch/anne-beutter