Balthasar Hug und Thomas Nyffeler leiten den Fachbereich Medizin und Medizinische Wissenschaften an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften und Medizin. Im Interview erzählen sie, welche bedeutenden Entwicklungen ihre Fachgebiete prägen.

Thomas Nyffeler (l.), Professor für Medizin und Medizinische Wissenschaften, und Balthasar Hug, Professor für Community Medicine. Hug amtet seit Februar 2025 als Prodekan des Fachbereichs Medizin und Medizinische Wissenschaften, Nyffeler als stellvertretender Prodekan.

Balthasar Hug, Sie arbeiten und forschen seit rund 35 Jahren auf dem Gebiet der Inneren Medizin. Welches sind aus Ihrer Sicht die bedeutendsten Fortschritte, die hier realisiert werden konnten?

Balthasar Hug: Meine Forschung ist klinisch ausgerichtet und beschäftigt sich mit Medikament-Nebenwirkungen sowie mit Prozessen im Behandlungsablauf. Auch Gesundheitssystem-Forschung (Health Services Research) ist ein Fokus, etwa zu Kosten und Pandemiefolgen. Grosse Fortschritte zeigt die Medizin bei minimalinvasiven Eingriffen, neuen Medikamenten (z.B. Immuntherapien) und künstlicher Intelligenz, die in Diagnostik, Textanalyse, Spracherkennung und Entscheidungsprozessen eingesetzt wird.

Inwiefern hat dies Ihren Berufsalltag in der klinischen Praxis beeinflusst? 

Die erwähnten Fortschritte prägen unseren Alltag und kommen unseren Patientinnen und Patienten direkt zugute. Aus diesem Grund ist die Unterstützung der Forschung so wichtig, damit sich die Medizin in der Schweiz kontinuierlich weiterentwickeln kann.

Welchen Erkenntnissen und Meilensteinen Ihrer eigenen Forschung messen Sie den grössten Stellenwert bei und warum? 

Meine drei meistzitierten Publikationen behandeln zentrale Themen der Patientensicherheit und Entscheidungsunterstützung: Die erste zeigt, dass viele Ärztinnen und Ärzte auf den Einsatz von Blutgerinnungs-Hemmern verzichten, auch wenn ein solcher angezeigt wäre. Dies vor dem Hintergrund, dass es bei der Einnahme solcher Hemmer bei Stürzen zu erhöhten Blutungen kommen kann. Die zweite untersucht die hohen Kosten von Medikationsfehlern in Spitälern, die vermeidbar wären. Die dritte beleuchtet, wie klinische Entscheidungssysteme Ärztinnen und Ärzte mithilfe digitaler Daten und zunehmend auch künstlicher Intelligenz bei sicheren und fundierten Entscheidungen unterstützen.

Eines Ihrer aktuellen Forschungsprojekte befasst sich mit der Darmkrebs-Prävention und Früherkennung im Kanton Luzern. Welche Ziele verfolgt das Projekt genau? 

Das Früherkennungsprogramm für Dickdarmkrebs wurde vom Gesundheitsdepartement des Kantons Luzern ins Leben gerufen. Wir haben die Rolle der wissenschaftlichen Begleitung des Projekts übernommen und werten die gewonnenen Erkenntnisse aus. Aktuell laufen zwei Masterarbeiten zum Thema, welche publiziert werden. Das Hauptziel des Projektes ist die Reduktion von Dickdarmkrebs in der Luzerner Bevölkerung. 

Sie beide kommen aus unterschiedlichen Fachbereichen. Welche Rolle spielt der eigene Hintergrund bei der Leitung eines Fachbereichs?

Balthasar Hug: Eine wichtige: Einerseits legt die Facharztausbildung den Fachbereich fest, in dem man sich etabliert. Andererseits sind Zusatzausbildungen für Leitungsaufgaben wünschenswert und hilfreich. Ich persönlich habe einen Master of Business Administration an der Universität St. Gallen absolviert, der mir bei meinen Leitungs- und Projektaufgaben sehr hilft.

Thomas Nyffeler: Als ein in der Neurorehabilitation tätiger Neurologe bin ich mir das interdisziplinäre Arbeiten gewohnt, wir können nur gemeinsam eine Patientenversorgung auf hohem Niveau erreichen. Auch in der Forschung ist interdisziplinäres Arbeiten wichtig, weil die Zusammenarbeit verschiedener Fachdisziplinen es besser ermöglicht, komplexe Fragestellungen zu lösen. So forschen in der Neurorehabilitation auch Neurologen, Neuropsychologinnen, Physiotherapeuten, Ergotherapeutinnen und Logopäden eng zusammen.

Thomas Nyffeler, wie verändert sich als Neurologe der Blick auf den Alltag, wenn man genau weiss, was in bestimmten Situationen in den Köpfen der Leute passiert?

Man gewinnt ein tieferes Verständnis dafür, wie Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen durch neuronale Prozesse beeinflusst werden. Das kann dazu führen, dass man empathischer und geduldiger im Umgang mit Menschen wird, da man die zugrunde liegenden Hirnmechanismen besser nachvollziehen kann. Dies trifft vor allem auch auf unsere Patientinnen und Patienten zu. Zudem kann es dazu beitragen, Missverständnisse zu vermindern, da man erkennt, warum jemand auf eine bestimmte Weise handelt oder reagiert. Wahrscheinlich fördert dieses Wissen auch ein bewussteres Verhalten im Alltag und man bekommt Ehrfurcht vor der Komplexität des menschlichen Nervensystems. Es erinnert daran, wie beeindruckend und gleichzeitig fragil unser Gehirn ist. 

Nach einem Schlaganfall beginnt das Gehirn, sich selbst wieder neu zu organisieren – dies kann durch gezieltes Training, also Rehabilitation, unterstützt werden. 
Thomas Nyffeler
Professor für Medizin und Medizinische Wissenschaften

Der Schlaganfall ist eine der Hauptursachen für langfristige Behinderungen. Ihre Forschung hat ein besseres Verständnis der neuronalen Grundlagen der Erholung des Gehirns nach einem Schlaganfall zum Ziel. Können Sie die Prozesse beschreiben, die sich dabei im Gehirn abspielen?

Nach einem Schlaganfall, bei dem ein Teil des Gehirns durch eine Durchblutungsstörung geschädigt wird, beginnt das Gehirn, sich selbst wieder neu zu organisieren – ein Prozess, der als neuronale Plastizität bezeichnet wird. Stellen Sie sich das so vor, wie wenn beim Schienennetz der SBB eine wichtige Verbindung, wie zum Beispiel die Strecke von Luzern via Sursee nach Bern, zerstört würde. Das Gehirn versucht nun, die Lücken zu füllen, indem es benachbarte Regionen dazu bringt, Aufgaben zu übernehmen, die zuvor in anderen Bereichen erledigt wurden. Es wachsen neue Verbindungen, sogenannte Synapsen, und benachbarte Neuronen übernehmen wichtige Funktionen. Mit dem SBB-Bild gesprochen: Damit der Verkehr aufrechtzuerhalten bleiben kann, müssen die Züge nun via Entlebuch nach Bern fahren. Die Fahrgäste kommen ebenfalls nach Bern, aber es braucht mehr Zeit. Das Gehirn nutzt also seine Fähigkeit zur Anpassung, um verlorene Funktionen wiederherzustellen oder zu kompensieren. Die neu entstehenden neuronalen Netzwerke können durch gezieltes Training, also Rehabilitation, unterstützt werden. 

Welches sind aus Ihrer Sicht weitere bedeutsame Entwicklungen, zu denen derzeit im Bereich der Neurologie geforscht wird oder in denen in den letzten Jahren wichtige Fortschritte erzielt werden konnten? 

Sie haben vorhin die Schlaganfalltherapie erwähnt. Hier hat sich die Akuttherapie dank der Forschung enorm weiterentwickelt, vor allem im Bereich der endovaskulären Behandlung, also der Behandlung innerhalb eines Blutgefässes. Durch die Behandlungsmethode der mechanischen Thrombektomie konnten die Prognosen bei Patientinnen und Patienten mit grossen Gefässverschlüssen unglaublich verbessert werden. Dank moderner Bildgebungstechnologien wie CT- und MRT-Scans kann schnell und präzise erkannt werden, ob eine Thrombektomie notwendig ist. Bei entsprechenden Befunden wird ein dünner Katheter durch die Blutgefässe geführt, um das Blutgerinnsel in den blockierten Gefäßen zu entfernen. Dieses Verfahren hat dazu beigetragen, die Sterblichkeitsrate zu senken und langanhaltende Behinderungen massiv zu reduzieren.  

Gibt es weitere wichtige Trends und Herausforderungen in der Neurorehabilitation? 

Die demografische Entwicklung in der Schweiz ist durch eine zunehmende Alterung der Bevölkerung gekennzeichnet. Dadurch steigt das Risiko für einen Schlaganfall deutlich, wodurch die Zahl der Schlaganfälle kontinuierlich zunehmen wird. Für die Forschung und für die Versorgung ergeben sich dadurch verschiedene Fragen: Wie gehen wir mit den damit steigenden Anforderungen an Rehabilitations- und Pflegeeinrichtungen um? Wie können wir Betroffene selbst, aber auch ihre Angehörigen, die oftmals Pflege- und Unterstützungsaufgaben übernehmen, noch besser unterstützen?

In den kommenden Jahren soll neben der Stärkung und dem Ausbau der Lehrangebote und der Lehre der Forschungsstandort Zentralschweiz entscheidend gestärkt werden.
Balthasar Hug
Professor für Community Medicine

Welches sind wichtige laufende Prozesse sowie Pläne für die Zukunft im Fachbereich Medizin und Medizinische Wissenschaften? 

Hug: Aus meiner Sicht stehen die Stärkung und der Ausbau des Joint Medical Master in Zusammenarbeit mit der Universität Zürich zur Ausbildung von Medizinstudierenden sowie die Weiterentwicklung des Studiengangs Gesundheitswissenschaften im Vordergrund. Parallel dazu soll der Forschungsstandort Zentralschweiz in den kommenden Jahren entscheidend gestärkt werden. Dazu gehören der Ausbau der Professorenschaft mit ausgezeichneten Fachkräften, die erfolgreiche Akquise von Drittmitteln und die Unterstützung der Forschung durch Institutionen wie Forschungsstiftungen und unsere Clinical Trial Unit.

Nyffeler: Als einer der nächsten Schritte möchten wir auch die Sichtbarkeit der Forschenden im Fachbereich Medizin und Medizinische Wissenschaften erhöhen. Konkret möchten wir den Webauftritt der Fakultät für Gesundheitswissenschaften und Medizin  weiterentwickeln, um der gesamten Universität die Vielfalt der medizinischen Forschung und die verschiedenen Forschungsgruppen vorzustellen. Als neue Fakultät möchten wir uns so besser bekannt machen und uns als mögliche Kooperationspartner vorstellen und vernetzen. 

Wenn Sie einen Äskulap-Zauberstab zur Verfügung hätten, mit dem Sie eine medizinische Errungenschaft in Sekundenschnelle verwirklichen könnten. Welche würden Sie wählen und weshalb? 

Hug: In diesem Fall würde ich mir wünschen, dass alle Menschen Zugang zu sauberem Wasser und Seife hätten. Aus klinisch-epidemiologischer Sicht könnten durch diese grundsätzlich einfache Massnahme Millionen von Menschen vor Durchfallerkrankungen, anderen Infektionen – insbesondere der Haut – und Dehydrierung (Wassermangel) geschützt werden.

Nyffeler: Ergänzend zu oben, würde ich mir Medikamente wünschen, welche die Wiederherstellung neuronaler Netzwerke im Gehirn ermöglichen. Damit könnte man akute Hirnschäden wie bei einem Schlaganfall reparieren und das Gehirn dauerhaft funktionsfähig machen. Eine solche Regeneration würde die Medizin revolutionieren und Millionen Menschen weltweit helfen.
 

HINWEIS
Die Fakultät für Gesundheitswissenschaften und Medizin ist in drei eng miteinander kooperierenden Fach­bereichen mit einem jeweiligen Prodekan-Amt organisiert: Gesundheitswissenschaften und Gesundheitspolitik, Medizin und Medizinische Wissenschaften, um den es in diesem Beitrag geht, sowie Rehabilitations- und Funktionsfähigkeitswissenschaften.