Warum wirkt Demokratie heute so uninspiriert? Der Philosoph Michael Ivo Räber meint: Weil wir vergessen haben, dass Demokratie nicht nur in Gesetzen und Institutionen lebt – sondern darin, wie wir fühlen, wahrnehmen und zueinander in Beziehung treten.

Vektordesign im geometrischen Stil mit Glühbirne, Gehirn, Bleistift-Stockillustration. Symbolisch für: Idee, unkonventionelles Denken, Kreativität.
(Bild: ©istock.com/ma_rish)

Michael Ivo Räber, in Ihrer aktuellen Forschung beschäftigen Sie sich mit dem Verhältnis von Ästhetik und Demokratie – also damit, wie ästhetische Erfahrungen, Wahrnehmungen und Urteile demokratische Freiheit, Teilhabe und soziale Gerechtigkeit beeinflussen. Können Sie das Thema kurz skizzieren?

Michael Ivo Räber: Ganz allgemein untersuche ich, wie unsere sinnlichen Erfahrungen – also, wie wir die Welt sehen, hören und fühlen – das demokratische Leben prägen. Das mag abstrakt klingen, hat aber sehr konkrete Folgen. Etwa: Wer wird im öffentlichen Raum wahrgenommen? Wessen Leid wird anerkannt – und wessen nicht? Die politischen Konsequenzen solcher Unterschiede sind tiefgreifend.

Würden Sie sagen, dass Demokratie ebenso sehr in alltäglichen sozialen Interaktionen verwurzelt ist wie in formalen Institutionen?

Foto Michael Raeber
Dr. Michael Ivo Räber, Oberassistent für Praktische Philosophie

Ja. Demokratie gelangt nicht nur über Institutionen – Wahlen, Parlamente, Rechtsstaatlichkeit – zum Ausdruck, vielmehr handelt es sich ebenfalls um eine Lebensweise. Diese umfasst auch, wie wir andere wahrnehmen und beurteilen. Unsere sinnlichen und emotionalen Reaktionen beeinflussen, wie wir uns selbst, andere und die Welt verstehen – und damit auch, wie wir uns politisch engagieren. Dazu gehört auch, wen wir als Teil unserer Gesellschaft betrachten. Der Philosoph John Dewey (1859–1952), auf den ich mich stark beziehe, hat Demokratie als «way of life» beschrieben. Er meinte, dass demokratische Prinzipien nicht auf politische Institutionen beschränkt bleiben dürfen, sondern auch in Schulen, am Arbeitsplatz und in Familien gelebt und eingeübt werden müssen. Umgekehrt gilt: Wenn Menschen sich am Arbeitsplatz nicht gehört oder nicht anerkannt fühlen, wirkt sich das unmittelbar auf ihr Selbstwertgefühl und ihre Fähigkeit aus, als demokratische Bürgerinnen und Bürger aktiv zu werden.

Die Sorge über eine «Krise der Demokratie» ist zunehmend präsenter geworden. Sie sagen, diese Krise sei nicht nur eine politische, sondern vor allem eine Krise der Vorstellungskraft – ein Verlust der Fähigkeit, sich neue Lebens- und Gesellschaftsformen im Rahmen demokratischer Ordnungen vorzustellen …  

Meine Motivation speist sich auch aus einer gewissen Frustration darüber, dass die politische Theorie die sinnlichen und emotionalen Dimensionen von Politik oft vernachlässigt. Heute spielen mediale Bilder und Inszenierungen eine enorme Rolle – man denke an Trump oder andere populistische Schlüsselfiguren. Autoritäre Bewegungen wie «Make America Great Again» in den USA nutzen Vorstellungskraft und emotionale Ansprache sehr wirksam – allerdings in einer Weise, die demokratischen Idealen direkt zuwiderläuft. Wir müssen verstehen, wie Emotionen und sinnliche Erfahrungen hier wirken, und Wege finden, sie auf demokratische Weise nutzbar zu machen. Wir brauchen alternative Entwürfe von Utopien, die in demokratischen Werten verwurzelt sind.

Menschen sind nicht rein rational – wir handeln oft aus Gefühlen und Imagination heraus.
Michael Ivo Räber
Oberassistent für Praktische Philosophie

Haben Demokratien die zentrale Rolle der Vorstellungskraft für das Funktionieren politischer Systeme unterschätzt?

Menschen sind nicht rein rational – wir handeln oft aus Gefühlen und Imagination heraus. Autoritäre Kräfte haben das verstanden. Demokratische Systeme hingegen haben die emotionale und imaginative Dimension vernachlässigt. Sie erscheinen oft abstrakt und entkörperlicht. Wenn wir Demokratie nur technokratisch verstehen, wird sie unzugänglich und uninspiriert. Institutionen und Entscheidungsträger verlernen dann, auf die Erfahrungen benachteiligter Gruppen zu hören, und werden blind sowohl für soziale Probleme als auch für mögliche Alternativen zum Bestehenden. Wenn wir dies ignorieren, verlieren wir die Bindung der Bürgerinnen und Bürger an das demokratische Leben.

Demokratien beruhen auf abstrakten Prinzipien wie Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Repräsentation. Erschwert diese Betonung von Rationalität und Struktur es, Emotionen anzusprechen und kollektive Vorstellungskraft zu wecken?

In gewisser Weise ja. Aber es ist möglich, wenn wir Demokratie als Lebensform begreifen. Leider wurde Demokratie im 20. Jahrhundert in liberalen Demokratien zunehmend auf eine Art Transaktion reduziert. Menschen fragen: «Was habe ich davon?» – und dies hemmt die Teilhabe. Demokratische Imagination neu zu beleben bedeutet auch, Menschen stärker einzubeziehen – lokal, in Vereinen, quer durch die Zivilgesellschaft. Das Prinzip der Solidarität kann dabei als emotionales Fundament dienen: das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein und füreinander Verantwortung zu tragen. Künstlerinnen, Intellektuelle, Bürgerinitiativen und die öffentlichen Medien haben eine wichtige Rolle darin, diese geteilte Vorstellungskraft zu fördern und die Bindung an die Demokratie zu stärken. Durch solche gemeinsamen Anstrengungen kann Demokratie «wirklich» werden – spürbar, erfahrbar und voller Möglichkeiten.

Interview in English
 

Demokratiekrise im Fokus

Michael Ivo Räber ist Oberassistent für Praktische Philosophie am Philosophischen Seminar. Er untersucht, wie Imagination, Wahrnehmung und Experimentieren das demokratische Leben tragen und erneuern können. Sein aktuelles Projekt «The Power of Imagination and Experimentation in Times of Democracy in Crisis» versteht die gegenwärtige Demokratiekrise nicht allein als ein Problem politischer Systeme, sondern als eine tiefere kulturelle Herausforderung: eine Folge unserer schwindenden Fähigkeit, neue Lebensweisen zu imaginieren und auszuprobieren. Aus dem Projekt sollen mehrere Aufsätze, ein Sammelband und schliesslich ein Buch hervorgehen. Ziel ist es, neue Perspektiven darauf zu eröffnen, wie Demokratie in Politik, Alltagsleben und digitaler Welt wiederbelebt werden kann.