Blick auf das Fremde

Fotografien und Filme aus fernen Ländern als vermeintlich authentische Zeugen aussereuropäischer Lebensweisen: Ein Forschungsprojekt am Historischen Seminar, bei dem dieses Thema im Fokus steht, geht in die Schlussphase. 

Lic. phil. Felix Rauh, Angela Müller, MA, und Prof. Dr. Aram Mattioli (von links).

"Aussereuropäische Kulturen in Reisefotografien und Dokumentarfilmen des deutschsprachigen Raums, 1924–1986": So heisst das seit Mitte 2011 laufende Forschungsprojekt von Aram Mattioli, Ordentlicher Professor für Geschichte mit Schwerpunkt Neueste Zeit an der Universität Luzern, das vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) gefördert wird.

Konstruierte Fremdbilder

Mattioli führt dazu aus: "Fotografien und Filme, die Menschen aus fernen Ländern und ihre 'exotischen' Lebenswelten zeigten, erfreuten sich während des ganzen 20. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum grosser Beliebtheit." In Illustrierten und Büchern, im Kino und im Fernsehen seien jahrzehntelang Bilder aus Afrika, Asien und Lateinamerika verbreitet worden, die den hier lebenden Menschen scheinbar genuine Eindrücke fremder Kulturen vermittelten. "Ohne dass sie sich dessen oft selber gewahr wurden, beeinflussten diese konstruierten Fremdbilder die Vorstellungen kolonialer und postkolonialer Realitäten stark", so Mattioli. Zum einen könne mit dem Projekt an die bestehende Forschung über die Repräsentation des Fremden, Anderen an der Universität Luzern angeknüpft werden. Zum anderen stosse man in das relativ neue Forschungsfeld der "Visual History" vor. "Indem im Zentrum des Projekts Fotografinnen und Fotografen sowie Dokumentarfilmer aus der Schweiz stehen, deren visuelles Schaffen in den ganzen deutschsprachigen Bereich hinausstrahlte, kann eine Forschungslücke geschlossen werden."

Indien als Augenweide

Das Team besteht neben Prof. Dr. Aram Mattioli aus den Doktorierenden Angela Müller und Felix Rauh. Müllers Dissertationsprojekt trägt den Titel «Südasien im Sucher. Fotografie im deutschsprachigen Raum 1920–1970». Sie möchte anhand von Fotografien von Martin Hürlimann, Werner Bischof und anderen und deren Verwendung die zeittypisch dominanten Vorstellungen von Südasien herauskristallisieren und den diesbezüglichen Wandel während der Jahrzehnte aufzeigen. Wie sie erzählt, seien im Laufe der Untersuchung verschiedene Phasen sichtbar geworden: "Indien als Augenweide: Die Darstellung der architektonischen Hochkultur – wohlgemerkt: stets ohne Menschen aufgenommen – in prächtigen Bildbänden fungierte für ein bildungsbürgerliches Publikum lange Zeit als der Anknüpfungspunkt schlechthin zu Indien." Weitere Bildthemen, die während gewisser Zeiten eine vorherrschende Stellung einnahmen, waren der Maharaja als Inbegriff des Reichtums, das politische Indien mit Gandhi und Nehru als Ikonen, der Hunger sowie Indien als Mekka der Hippie-Bewegung. Müller hat sich bereits mit ihrer Masterarbeit in Kulturwissenschaften ("Kindheit am Rande. Die Darstellung des Kindes in den sozialdokumentarischen Fotoreportagen der 1930er- und 1940er-Jahre von Theo Frey, Paul Senn und Hans Staub") intensiv mit dem Bild als Transportmedium von Ideen beschäftigt.

Vorstellungen der "Dritten Welt"

Felix Rauhs Dissertationsprojekt "Imaginationsraum Dritte Welt. Audiovisuelle Repräsentationen Afrikas, Asiens und Lateinamerikas im schweizerischen und deutschen Entwicklungskontext (1960–1986)" schliesst vom untersuchten Zeitraum an dasjenige von Angela Müller an. Der 46-Jährige hat einen interessanten Werdegang, bei dem er sich diverses Rüstzeug für sein Projekt aneignen konnte: Nach dem Studium der Geschichte, Volkswirtschaft und Politologie in Zürich und Rennes (F) folgten unter anderem die wissenschaftliche Mitarbeit an einem SNF-Projekt zum Zweiten Weltkrieg, die Arbeit beim Schweizer Fernsehen in der Abteilung Archivüberspielungen und bei Memoriav (Verein zur Erhaltung des audiovisuellen Kulturgutes der Schweiz). Zudem war Rauh Dozent an den Fachhochschulen Chur und Genf im Fach Information und Dokumentation und hatte Lehraufträge an den Historischen Seminarien der Universitäten Zürich und Luzern. Auch er beschäftigt sich in seiner Doktorarbeit mit dem Wandel von Repräsentationen – und zwar am Beispiel der Darstellung der Entwicklungszusammenarbeit in der sogenannten "Dritten Welt" in Dokumentarfilmen der Regisseure René Gardi, Ulrich Schweizer und Peter von Gunten (siehe Kontextelement unten).

Angela Müller und Felix Rauh geben in diesem Herbst ein Themenheft in der Reihe "Itinera" (Beiheft zur «Schweizerischen Zeitschrift für Geschichte») zum Thema "Wahrnehmung und mediale Inszenierung von Hunger im 20. Jahrhundert" heraus. Läuft alles nach Plan, werden sie ihre Dissertationen bis Ende Jahr einreichen. Positiv heben beide die Zusammenarbeit hervor. So sagt Müller: "Gemeinhin reicht man beim SNF ja als Zweckgemeinschaft ein Gesuch ein. Daraus hat sich bei uns erfreulicherweise rasch ein sehr fruchtbarer Austausch entwickelt, durch den es auch möglich wurde, die eigenen Befunde immer wieder zu überprüfen und selber kritisch zu hinterfragen."

 

Quelle: uniluAKTUELL, das Magazin der Universität Luzern, Ausgabe 47, Mai 2014.
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