Archivpraktiken. Produktion und Transformation von Archivmaterial im Schweizerischen Bundesarchiv (20. / 21. Jahrhundert)

Dissertationsprojekt Flurin Rageth
In meiner Dissertation interessiere ich mich für Praktiken im Archiv, die sich im Umgang mit schriftgebun­denem Archivmaterial realisieren. Die als Fallstudie konzipierte Dissertation erhält ihren Rahmen durch die Institution des Schweizerischen Bundesarchivs in Bern. Archivpraktiken, wie sie im Kontext des Bundesar­chivs (BAR) stattfinden, bilden den Forschungsgegenstand meines Projekts.

Als Versammlungsort von Schriftgut und anderen informationstragenden Dingen (bspw. Fotographien oder audiovisuelle Materialien) kommt einem staatlichen Archiv die Funktion zu, an anderen Orten entstandenes und somit bereits vorliegendes Material zu konservieren. Archivgut wird aber erst durch ein breites Ensemble von Archivpraktiken geschaffen. Die Entstehung von analogen und digitalen Archiv-Objekten und damit verbunden die Herausbildung eines archivischen Materialkontextes werde ich in meiner Dissertation als Neu­schöpfung beschreiben. Ich versuche aufzuzeigen, wie im BAR ein spezifisch archivischer Materialkontext konstituiert wird und welche Praktiken (auswählen, bewerten, kassieren, verzeichnen, erschliessen, digitalisieren, sichern, auswerten) sich im Kontext der Produktion von Archivmaterialien abspielen: Was wird mit dem Schriftgut im Archiv gemacht? Welche Bedeutung erhält das Material in den je unterschiedli­chen archivischen Arbeitskontexten? In welcher Hinsicht durchläuft das Schriftgut im und durch das Archiv eine symbolische Statusveränderung oder gar eine physische Transformation? Und welche Rollen spielen dabei archivische Praktiken?

Das BAR ist für die Archivierung von den in bundesbehördlichen Verwaltungsstellen produzierten Unterla­gen zuständig. Durch den Prozess der Archivierung wird nicht mehr gebrauchtes Geschäftsschriftgut aus seinem primären Verwendungsfeld herausgelöst und in Archivgut verwandelt. Voraussetzung für die Archi­vierung ist das Erfüllen von Kriterien der Archivwürdigkeit. Nicht-archivwürdiges Material wird vernichtet. In Bezug auf Zirkulation und Übersetzung von Schriftgut zwischen verschiedenen Kontexten, Orten und Akteuren spricht man im BAR vom Lebenszyklus der Akten. Dieser „life cycle“ umfasst die Entstehung eines Dokuments in einem Amt, seine Archivierung und Einlagerung in ein Archivmagazin sowie seine mögliche Weiterverwendung beispielsweise als Beleg in einer wissenschaftlichen Arbeit. Der Gesamtbestand des BAR beläuft sich mittlerweile auf mehr als 60'000 Akten-Laufmeter und 16 Terrabyte digitalisierter Unterlagen.

Die primäre und gesetzlich definierte Aufgabe des BAR besteht heute darin, durch nachhaltige Sicherung und rationelle Verwaltung von nicht mehr gebrauchten behördlichen Geschäftsunterlagen einen Beitrag zur Rechtsstaatlichkeit zu leisten und staatliche Geschäftspraktiken transparent und nachvollziehbar zu machen.  Seit Historiker im Verlauf des 19. Jahrhunderts begonnen haben, ihre Arbeit zunehmend  auf das Studium von Primärquellen auszurichten, gehören Archive heute auch zu privilegierten Orten historischer Forschung. Historiker und Historikerinnen stellen aus den ihnen zugänglichen Archivalien forschungsspezifische Quellenkorpora zusammen und transformieren das Archivgut in Forschungsmaterial. Vor diesem Hinter­grund sind auch epistemische Praktiken von Geschichtsforschern Teil der in Archiven zu identifizierenden Umgangsformen mit Schriftgut. Diese Ausdehnung der Aufmerksamkeit von der Produktionsseite auf die Nutzerseite von schriftlichem Archivgut ermöglicht es, Fragen nach Entstehungsumständen von Forschungsmaterial zu stellen und damit auch Möglichkeitsbedingungen und Voraussetzungen geschichts­wissenschaftlichen Wissens zu problematisieren. Inwiefern stellt ein Archiv mit seinem Materialkontext für Historiker Umstände und Situiertheiten dar? Wie lässt sich belegen, dass ein Archiv unser Wissen über die Vergangenheit präformiert? Und in welchen Momenten und Situationen zeigt sich das Archiv als wirkmäch­tige Infrastruktur für geschichtswissenschaftliche Forschungsunternehmungen? 

Neben einem Fokus auf gegenwärtig im BAR zu beobachtende Archivpraktiken, interessiere ich mich im vor­liegenden Projekt auch für die Gewordenheit der rezenten Archivpraxis und für die Historizität von Um­gangsweisen mit Schriftgut im BAR.