Gesundheitsvorsorge zu Beginn des Lebens: blinder Fleck mit riesigem Potenzial
Chronische Krankheiten nehmen stark zu, ihre Wurzeln liegen oft im frühen Kindesalter. Im Rahmen der LUKB-Vorlesungsreihe skizzierte Prof. Dr. Martin Stocker, wie wir die medizinische Behandlung völlig neu denken müssen.
Der Beginn des Lebens ist entscheidend für die spätere Gesundheit – wie kommen wir weg von reaktiven Behandlungen und hin zu einer frühzeitigen, ganzheitlichen Vorsorge? Diese Frage stand im Zentrum der Vorlesung von Martin Stocker, Titularprofessor für klinisch-medizinische Wissenschaften und Leiter des Kinderspitals Zentralschweiz, vom 18. November 2025.
Zu Beginn seines Vortrags führte Martin Stocker das Beispiel von Armin Grässl an, der vor rund 60 Jahren mit einer schweren Lungenerkrankung geboren worden war und zehn Jahre lang mit einem Tracheostoma – einer künstlich geschaffenen Öffnung der Luftröhre am Hals – lebte. «Trotz pessimistischer Prognosen überlebte er und wurde ein bekannter Fotograf», sagte Martin Stocker und verglich sein Schicksal mit dem eines Kindes, das drei Monate zu früh zur Welt kommt. Auch in einer solchen Situation sei die Unsicherheit gross und die Frage der Eltern die gleiche wie damals: Was bringt die Zukunft? «Die Menschen wollen Sicherheit, und wir Mediziner haben Schwierigkeiten, eine solche zu bieten», erläuterte Stocker.
Reaktive Behandlungen reichen nicht mehr
Im Therapieren von Krankheiten seien wir ziemlich gut geworden, so Stocker weiter. Es gebe durchaus Erfolge vorzuweisen – so zeige etwa eine Studie aus England, dass sich die Sterblichkeit von Kindern mit einer schweren Infektion zwischen 2018 und 2023 gegenüber dem Zeitraum von 2005 bis 2011 halbiert habe. «Das ist super, wir sind auch gut im Selbstlob», führte Martin Stocker schmunzelnd aus. Wenn man genau hinschaue, liege hinter dieser Entwicklung die Einführung der Meningokokken-Impfung. «Der Grund ist die Impfung, wir selbst sind nicht besser geworden», erklärte Stocker und hielt fest, dass gleichzeitig chronische Erkrankungen wie Diabetes, Herzerkrankungen oder Asthma massiv zugenommen haben. Um dieser Entwicklung zu begegnen, reiche die bisherige Strategie des reaktiven Behandelns von Erkrankungen nicht mehr, so Stocker weiter.
Die Ursachen für spätere gesundheitliche Folgen lägen oft in der frühen Kindheit. Zur Erläuterung skizzierte Martin Stocker vier beeinflussende Faktoren, über die man in den letzten zwanzig bis dreissig Jahren bereits viel gelernt habe. Der erste Faktor stellt die Epigenetik dar: Diese zellulären Prozesse, welche die Aktivität von Genen beeinflussen, hätten eine grosse Bedeutung. «Wenn ein Kind im Mutterleib zu wenig Nahrung erhält, dann führt das zu epigenetischen Veränderungen», so Stocker. Diese könnten entscheidend sein, ob sich normale Zellen zu Tumorzellen entwickeln oder nicht.
Mikrobiom spielt wichtige Rolle
Zweiter Faktor ist das Mikrobiom, die Gesamtheit aller Mikroorganismen im Körper. Nach zwölf Monaten sei dieses fix ausgebildet und spiele unter anderem bei Fettleibigkeit, Asthma oder Autismus eine Rolle, erklärte Stocker: «Wie lange ein Kind gestillt wird, ob es eine Spontangeburt gab, ob Haustiere in der Wohnung sind – all das verändert das Mikrobiom.» Auch die Ernährung spiele, als dritter Faktor, eine bedeutende Rolle. So sei etwa die Gewichtszunahme während der Schwangerschaft einer der wichtigsten Indikatoren für eine spätere Fettleibigkeit des Kindes, erläuterte Stocker. Wichtigen Einfluss auf die spätere Gesundheit eines Menschen habe zudem als vierter Faktor der psychosoziale Aspekt. Heimkinder, das zeige eine Studie, hätten später häufiger Bindungsprobleme. Ausserdem seien die kognitiven Fähigkeiten und das Erinnerungsvermögen bei Heimkindern deutlich schlechter ausgebildet, so Martin Stocker. Sein Fazit: «Faktoren wie das Mikrobiom, die Epigenetik, die Ernährung und die Fürsorge legen die Basis, wie die Kinder in die Zukunft gehen.»
Frühzeitiges «Investment» zahlt sich aus
Vor zwanzig Jahren hätten Neugeborene bei einem Verdacht auf einen Infekt rasch Antibiotika erhalten, um auf der sicheren Seite zu sein. «Heute wissen wir, dass wir damit das Mikrobiom stark beeinflussen», so Martin Stocker. Trotzdem sei der Entscheid oft schwierig, die Angst vor einer schweren, lebensbedrohlichen Infektion und der Umstand, dass wir kurzzeitige Folgen wichtiger einstufen als langfristige Effekte, seien gross. Umso wichtiger sei deshalb die Entwicklung einer gesundheitlichen Vorsorge im frühen Lebensalter. Ähnlich wie in der Finanzwelt brauche es das Bewusstsein, dass sich frühzeitiges «Investment» schlussendlich auszahle. Generell müsse ein Modell erarbeitet werden, das aufzeige, wie das Gesundheitssystem umgestaltet, wie die Kollaboration unter Spitälern aber auch darüber hinaus verbessert werden könne. In Anbetracht gegenwärtiger technischer Fortschritte werde die Innovation riesig sein, bemerkte Stocker, dazu seien aber unter anderem Verbesserungen im Bereich der Erfassung und Nutzung medizinischer Daten sowie ein cleverer Einbezug von KI notwendig. Als Beispiel für die Entwicklung eines kollaborativen Ansatzes, der die verschiedenen Akteure des Gesundheitssystems wie Gesellschaft, Politik, Industrie, Forschung und Praxis zusammenbringt, verwies Stocker auf das Swiss Learning Health System, eine nationale Plattform im Bereich der Gesundheitssystem- und Versorgungsforschung, das an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften und Medizin der Universität Luzern angesiedelt ist.
Sämtliche Akteure hätten ein Interesse in an einer Gesundheitsvorsorge zu Beginn des Lebens, sagte Martin Stocker zum Ende seines Referats. Der Schritt, das Gesundheitssystem dahingehend zu verbessern, müsse jetzt getan werden, auch wenn das Interesse langfristiger Natur sei: «Wir machen das nicht für uns, sondern für die Kinder», so Stocker. «Natürlich gibt es auch Herausforderungen, aber ich bin überzeugt, wenn wir diese jetzt gemeinsam angehen, können wir etwas für die zukünftigen Generationen tun.»
Impressionen








