Theologiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts

Die Neuscholastik hat im neueren theologischen Diskurs nicht den besten Ruf; sie gilt als eine Zeit theologischer Dekadenz, die von Modernitätsverweigerung, starrer Lehramtshörigkeit, methodischem Formalismus und von einer an Monotonie grenzenden Uniformität geprägt war. Eine intensivere Auseinandersetzung mit dieser Phase der Theologiegeschichte wurde und wird insofern nicht selten als Verschwendung theologischer Arbeitsenergie bewertet, die Neuscholastik pauschal als blosse Negativfolie, gewissermassen als der dunkle Hintergrund betrachtet, vor dem die nachkonziliaren Entwicklungen umso heller erstrahlen. Ohne bezweifeln zu wollen, dass der mit dem Abschied von der Neuscholastik verbundene methodische und inhaltliche Aufbruch der Theologie im 20. Jahrhundert gut und notwendig war, kann doch mit guten Gründen die Auffassung vertreten werden, dass eine theologiehistorisch adäquate Wahrnehmung und Bewertung der Neuscholastik doch zumindest ein höheres Mass an Präzision, Tiefenschärfe und Detailorientierung in der Auseinandersetzung mit dieser Phase theologiegeschichtlichen Denkens erfordert als häufig üblich. Wenigstens für ein substantielles Verständnis des nachneuscholastischen Aufbruchs im 20. Jahrhundert, der bis heute das Profil theologischen Arbeitens prägt, ist eine gewisse Kenntnis der neuscholastischen Hintergründe erforderlich. Aber auch über dieses im Grunde selbstevidente Gebot einer theologiehistorisch fundierten Betrachtung und Bewertung genetischer Zusammenhänge hinaus lässt sich die Auffassung vertreten, dass ein von theologiehistorischer Kenntnis gesättigter Zugang die wohl beste Ausgangsposition für Aktualisierungsbemühungen in theologischen Sachfragen darstellt. Und selbst diesbezüglich ist eine Befassung mit der Neuscholastik keineswegs unergiebig, stellt sie doch eine Gestalt theologischen Denkens dar, die trotz aller Grenzen und Unzulänglichkeiten fraglos von einem hohen Mass an begrifflicher Schärfe und theologischer Diskurskomplexität sowie von einem durchaus nicht zu unterschätzenden Grad der Verarbeitung theologiehistorischen Materials geprägt war.

Veröffentlichungen zum Thema:

Schumacher, Ursula: Zwischen donum supernaturale und Selbstmitteilung Gottes. Die Entwicklung des systematischen Gnadentraktats im 20. Jahrhundert (Studien zur systematischen Theologie, Ethik und Philosophie 1), Münster 2014.

Schumacher, Ursula: Die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ im Licht neuscholastischer Gnadentheologie. Theologiegeschichtliche Überlegungen in ökumenischer Absicht, in: Oberdorfer, Bernd & Söding, Thomas (Hrsg.), Wachsende Zustimmung und offene Fragen. Die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre im Licht ihrer Wirkung (Quaestiones Disputatae 302), Freiburg i. Br. u.a. 2019, 320–342.

Schumacher, Ursula: Gnade Christi – Gnade des Geistes? Pneumatologische Entwicklungen in der katholischen Charitologie und Soteriologie des 20. Jahrhunderts, in: Dahlke, Benjamin, Dockter, Cornelia & Langenfeld, Aaron (Hrsg.), Christologie im Horizont pneumatologischer Neuaufbrüche. Bestandsaufnahmen und Perspektiven (Quaestiones Disputatae 325), Freiburg i. Br. 2022, 17–37.