Station 6
Volksbildung als Ideal der Helvetischen Republik
Ende des 18. Jahrhunderts folgte auf die alte Eidgenossenschaft die Helvetische Republik (1798-1803). In ihr erhielt das Bildungswesen einen hohen Stellenwert. Gemäss dem Vorbild der Französischen Revolution wurde das Schulwesen unter staatliche Aufsicht gestellt, die allgemeine Schulpflicht eingeführt und kantonale Erziehungsräte eingesetzt.
Es gab allerdings Widerstand in der ländlich geprägten Bevölkerung gegen diese revolutionären Neuerungen, und noch grösser waren die Vorbehalte gegen die höhere Bildung.
Näheres dazu erfahren Sie im Audiobeitrag oder im vollständigen Text "Volksbildung als Ideal der Helvetischen Republik".
Am 12. April 1798 erblickte in Aarau als Nachfolgerin der untergegangenen alten Eidgenossenschaft die "eine und unteilbare Helvetische Republik" das Licht der Welt. Das neue Gemeinwesen war inspiriert von der Aufklärung, weshalb die Schule von Anfang an den zentralen gesellschaftspolitischen Programmpunkt bildete: Alle Kinder sollten unentgeltlich und verpflichtend jene Bildung erhalten, die notwendig war, um eigenverantwortlich das Leben zu gestalten, sich selbst zu ernähren und als mündige Bürger am Aufbau des Staates mitzuwirken. Eine demokratische Gesellschaft von Gleichen wie auch soziale Prosperität waren angewiesen auf Bürgerinnen und Bürger, die sich allesamt zumindest auf das Lesen, Schreiben und Rechnen verstanden. Nur so war es möglich, die Welt nach den Gesichtspunkten der Vernunft zu gestalten und das Individuum von überkommener Herrschaft zu befreien.
Die Strukturen des neuen Staatswesens machten den hohen Stellenwert von Bildung und Schule unmittelbar sichtbar. In der helvetischen Zentralregierung gab es ein Ministerium für Künste und Wissenschaften. Es stand unter Leitung des Berner Professors Philipp Albert Stapfer, den nach einem halben Jahr der ehemalige Luzerner Chorherr Johann Melchior Mohr ablöste. Die Kantone richteten Erziehungsräte ein, welche für alle Belange der Schule mit umfassenden Vollmachten ausgestattet waren und die Entwicklung vorantrieben. Die Helvetische Regierung hatte ab Oktober 1798 für acht Monate ihren Sitz in der Stadt Luzern im ehemaligen Ursulinenkloster auf der Musegg. Hier hatten die Schwestern seit 1676 eine höhere Töchterschule geführt, welche als Pendant zum Jesuitenkollegium zu gelten hat. Die Mariahilf-Kirche wurde umgebaut und vom Parlament als Sitzungssaal genutzt.
Als eigentliche Herkulesaufgabe erwies es sich, die allgemeine Schulpflicht einzuführen und dann durchzusetzen. Im 18. Jahrhundert gab es fest eingerichtete Schulen einzig in Sursee, Sempach, Willisau, Beromünster und in der Stadt Luzern selbst. In den Dörfern wurde in der Regel lediglich während einiger Monate im Rahmen von "Winterschulen" Unterricht gehalten. Vielleicht 50 bis 70 Prozent der Bevölkerung waren in der Lage, einfache Texte zu lesen, doch nur etwa fünf bis zehn Prozent konnten auch schreiben. Weil die Kinder in der bäuerlichen Welt als Arbeitskräfte eine wichtige Rolle spielten, stiess die Neuordnung des Bildungswesens auf viele Hindernisse. Reserve und offene Ablehnung waren auch weltanschaulich bedingt: Die allgemein verpflichtende Schule galt als Neuerung, ins Land gebracht von der Revolution und von "den Franzosen". Allein schon damit erschien sie manchen als Risiko für den Frieden im Land und als Gefahr für die Religion. Viele waren überzeugt, es reiche, wenn die Kinder über einfache Lesefähigkeiten verfügten und im Glauben unterwiesen waren; Kompetenzen in Rechnen, Geometrie, Geschichte oder Geographie galten als nette Zugabe ohne praktischen Nutzen.
Noch stärker ausgeprägt war die Reserve gegen höhere Bildung. Die Gymnasien und erst recht die Universitäten standen im Ancien Régime den Söhnen der ständischen Eliten offen. Wer aus einfachen Verhältnissen kam, erhielt einzig durch Aussicht auf eine geistliche Karriere oder durch Eintritt in ein Kloster die Chance auf Zugang zu klassischer Bildung. Im bürgerlichen Zeitalter wurde mit der Industrialisierung der technische Fortschritt zu einem entscheidenden Wohlstandsfaktor. Neue Ingenieur-Berufe entstanden und liessen die Naturwissenschaften zu hohem Ansehen kommen. Als der junge Bundesstaat 1855 eine eigene Hochschule gründete, war diese auf die neuen Wissenschaftszweige ausgerichtet. Sie kam nach Zürich, hiess "Eidgenössisches Polytechnikum" und gehört heute unter dem Namen "Eidgenössische Technische Hochschule" zu den weltweit führenden Universitäten.