Station 5
Ketzerei im Luzern des 18. Jahrhunderts
Der Fisch- oder Weinmarkt in der Stadt Luzern diente dem Lebensmittelhandel und öffentlichen Versammlungen unter freiem Himmel. Im südwestlichen Teil waren ein Gerichtsplatz mit einem Pranger und einer Lasterbank eingerichtet, die beide Mitte des 19. Jahrhunderts entfernt wurden.
Mitte des 18. Jahrhunderts wurde hier das letzte Todesurteil in einem Ketzerprozess verlesen.
Zum Tode verurteilt im Jahr 1747 war ein Mann als sogenannter "Irrgläubiger", weil er Sympathien hatte zum Pietismus, einer Reformbewegung des Protestantismus, und weil er gemeinsam mit Gleichgesinnten die Bibel und andere religiöse Schriften las.
Das tragische Geschehen verdeutlicht auf eindrückliche Weise die Wissenschaftsfeindlichkeit (hier das Verbot eigenständigen Bibellesens) und die religiöse Ausgrenzung im Luzern des 18. Jahrhunderts.
Näheres dazu erfahren Sie im Audiobeitrag oder im vollständigen Text "Ketzerei im Luzern des 18. Jahrhunderts".
Wissenschaft ist fundamental darauf angewiesen, dass sie sich frei von religiösen Fesseln und staatlicher Gängelung entfalten kann. Universitäten sind auf ein gesellschaftliches Umfeld angewiesen, das kritisches, vorurteilsloses und innovatives Denken zulässt. Von all dem konnte im katholisch geprägten Luzern in der Mitte des 18. Jahrhunderts, als andernorts in Europa bereits die Aufklärung blühte, keine Rede sein. Nichts verdeutlicht die geistige Enge besser, als ein schauerlicher Vorfall, der sich hier 1747 zutrug. Am 27. Mai, zur Mittagszeit, machte auf dem Weinmarkt ein Hinrichtungszug Halt. Bei der Fischbank wurde das Todesurteil gegen den 48 Jahre alten "Ketzer" Jakob Schmidlin verlesen – vor viel gaffendem Volk. Dem durch lange Wochen der Haft und erlittene Folter entkräfteten Kleinbauern legte der Rat schwerste Verbrechen gegen Staat und Kirche zur Last, konkret: Abfall vom katholischen Glauben, Verbreitung höchst schädlicher und verdammungswerter Lehren, Einfuhr und Verbreitung glaubenswidriger Schriften, Teilnahme an auswärtigen reformierten Gottesdiensten, Briefwechsel mit Andersgläubigen, Störung von Ruhe und Ordnung, Verführung des Volkes zu Rebellion, Abhaltung verbotener Zusammenkünfte und Gefährdung des Seelenheils von Landsleuten.
Noch gleichentags starb der als "Ketzer" Verurteilte einen grausamen Tod auf der Luzerner Hinrichtungsstätte ausserhalb der Stadtmauern. An einen Pfahl gefesselt erwürgte ihn der Scharfrichter mit einem Strick, bevor er Schmidlins leblosen Körper zusammen mit den beanstandeten Schriften einem brennenden Scheiterhaufen übergab. Selbst Schmidlins Wohnsitz, der oberhalb von Werthenstein im Entlebuch gelegene Sulzig-Hof, wurde eingeäschert und über der Brandstätte eine Schandsäule errichtet. Drei Wochen nach der Exekution erneuerte die Obrigkeit das Kauf-, Verkaufs- und Leseverbot für deutschsprachige Bibelausgaben. Was für ein Gewitter hatte sich da bloss entladen?
Jakob Schmidlins einziges Vergehen bestand darin, dass er Gott auf eigene Weise anbeten wollte. 1699 als Sohn armer katholischer Landleute geboren, besuchte der Bergbauer nie eine Schule. Dennoch brachte er sich das Lesen selber bei und fand zeitlebens Gefallen an eigenständiger Lektüre. Um ihn bildete sich ein Kreis von Gleichgesinnten, die mit dem Pietismus sympathisierten, einer Reformbewegung des Protestantismus. Man betete gemeinsam, las und diskutierte die Bibel und andere religiöse Schriften. Diese privaten Andachtsübungen stellten nach damaligem Rechtsverständnis schwere Verstösse gegen Staat und Kirche dar. Nur schon der Besitz, geschweige denn das Lesen "lutherischer Schriften" waren im Vorort der katholischen Schweiz strengstens untersagt. Selbst die Heilige Schrift durfte damals nur mit bischöflicher Sondererlaubnis in der Landessprache gelesen werden. Nach der blutig niedergeschlagenen Bauernrebellion von 1653 standen geheime Zusammenkünfte überdies unter dem Generalverdacht, Verschwörungen gegen die gottgewollte Ordnung vorzubereiten. 1739 flog der pietistische Kreis ein erstes Mal auf. Doch die Obrigkeit entschied sich, Gnade vor Recht walten zu lassen. Dies bestärkte Schmidlin und seine Freunde in ihren Überzeugungen und machte sie wohl auch etwas unvorsichtig. Ihre Zusammenkünfte blieben nicht unbemerkt.
Ein übereifriger Wundarzt denunzierte Jakob Schmidlin im November 1746 ein zweites Mal als Haupträdelsführer bei der Luzerner Obrigkeit. Er brachte damit eine Maschinerie in Gang, die nicht nur mit der Exekution Schmidlins endete, sondern auch mit 73 ewigen Landesverweisungen und drei Galeerenstrafen. Nur Tage danach schenkte das Chorherrenstift St. Leodegar der hohen Regierung ein silbernes Bildnis des heiligen Franz Xaver, das unter reger Beteiligung staatlicher und kirchlicher Würdenträger, aber auch der Bürgerschaft in die Hofkirche überführt wurde. Damit dankte Luzern dem Stadt- und Landespatron dafür, dass er bei Gott Fürsprache gehalten hatte und die Obrigkeit bei der Vernichtung der irrgläubigen Ketzer "erleuchtet, dirigiret und gesegnet" habe. Damit war, wie sich mit der grösser werdenden Distanz zum letzten Luzerner Ketzerprozess zeigte, nicht das letzte Wort gesprochen. Ohne dass er sich dessen selber bewusst war, kann, ja muss man in Schmidlin nicht nur einen Vorkämpfer der Gewissensfreiheit, sondern auch einen Anwalt für eigenständiges Lesen sehen, das am Anfang jeder wissenschaftlichen Beschäftigung steht.