Menschen an Universitäten gewinnen seit dem späten Mittelalter Fortschritte im Wissen diskursiv und dokumentieren sie in gelehrten Disputationen und Debatten. Es sind kommunikative, interaktive Vorgänge. Entstehen die notwendigen Beziehungen stets traditionell oder gibt es dafür andere Wege?

Noch während ich mit der Ausrichtung meiner Arbeit auf die Konsequenzen der Bologna-Reform von 1999 beschäftigt war, zuckte bereits der nächste Blitz vom Himmel und eine neue Forderung kam auf den Tisch: Studieren müsse möglich sein, auch wenn jemand gar nicht da sei, sondern permanent abwesend. Das Stichwort hiess: Bachelor Theologie im Fernstudium.

Lehrveranstaltungen durchführen und dabei die Beteiligten «auf Distanz» halten – das war für mich zunächst eine fremde Vorstellung. Zwar wusste ich, dass Einsamkeit und Freiheit seit dem 19. Jahrhundert gedanklich durchaus zum Wesen der Universität gehören, doch hatte ich mir darunter etwas anderes vorgestellt. Lehren und lernen ohne kreativen Dialog und Auge in Auge? Wenig anfangen konnte ich auch mit der Idee eines Studiums ohne Beziehung zur Stadt und der realen menschlichen Umgebung, in der eine Universität steht. Wer so Kompetenzen erwerben muss, dachte ich, wird dem sozialen Kontext, in dem der Wissenschaftsbetrieb stattfindet, genauso fremd und befremdet gegenüberstehen wie der Pendler, der täglich in stundenlanger Autofahrt seinen Arbeitsort aufsucht und danach sofort wieder verschwindet.

Im Herbst 2013 begann an der Theologischen Fakultät das Lernen auf Distanz in unterschiedlichen Formen. Der Klassiker: eine Vorlesung im Hörsaal, aufgezeichnet und zeitversetzt gesendet – wie eine Oper am Fernsehen. Es folgt die notwendige Vertiefung: Studierende begeben sich in eine nahe gelegene Bibliothek oder sie setzen sich auf andere Weise mit den Themen auseinander. Die Vielfalt ist gross: das eigenständig von Teilnehmenden aufgezeichnete und auf der Website dem Auditorium zugänglich gemachte Kurzreferat, schriftliche Textinterpretationen, Gruppenarbeiten, Blogs und Videokonferenzen. Einzig Blockseminare und Prüfungen finden obligatorisch in Luzern statt. Das Fernstudium nach diesem Muster unterscheidet sich grundlegend von dem, was einen MOOC oder einen simplen Podcast ausmacht – eine Einsicht, die auch in unserem Haus immer noch nicht überall Platz gegriffen hat.

Verantwortung an eine Maschine oder einen Algorithmus zu delegieren, kommt für mich nicht in Frage.

Von Anfang an wollte ich die Teilnehmenden direkt ansprechen. Einzelne Vorlesungselemente zeichne ich daher im privat improvisierten Studio zielgruppengerecht auf, hinzu kommen Bild und Ton aus dem Hörsaal. Bald habe ich gemerkt, wo der entscheidende Punkt liegt: Die dozierende Person ist für eine Lehrveranstaltung umfassend verantwortlich – wie üblich für Inhalte und Methoden, nun aber auch für die technische Aufbereitung. An mir ist es zu definieren, welche Anforderungen Hard- und Software zu erfüllen haben, damit sie brauchbar sind für die Lehre in meinem Fach. Ich selbst muss festlegen und steuern, wann eine Aufzeichnung beginnt und wann sie endet, ich wähle die Sequenzen aus und bestimme, wer wann Zugriff erhält. Auch die Archivierung von Dateien muss in meiner Hand liegen. Verantwortung an eine geheim programmierte Maschine oder einen Algorithmus zu delegieren, kommt für mich nicht in Frage.

Videokonferenzen vermitteln bemerkenswerte Erfahrungen: Zwar führt die Technik zur brutalen Reduktion jeder kommunikativen Aktivität, doch auf null zu drücken vermag sie die Wirkung nicht. Computer und Internet versetzen entfernt Studierende für kurze Zeit wenigstens virtuell in meine eigene Arbeitsumgebung und ich bin bei ihnen zu Gast: im Wohnzimmer, das Ruhe und Ordnung ausstrahlt, im Bastelkeller, in dem auch der Kater zuhause ist, oder in der Mönchszelle, die zu einem abgelegenen Kloster gehört. Manche Verbindung erinnert an schöne Ferientage: Eine Person meldet sich live aus dem sonnigen Südtirol, eine andere aus dem tief verschneiten Wallis, eine dritte wohnt in einem richtigen barocken Fürstenschloss. Wer nahe vor einer Kamera Platz nimmt, exponiert sich und legt einen Teil von sich selber offen; Stimmungen und Arbeitsatmosphäre sind auf der anderen Seite wahrnehmbar. Selbst ein ritualisierter, themenorientierter Dialog kann jene persönlichen Verbindungen ermöglichen, welche die besondere menschliche Qualität der Arbeit an einer Universität ausmachen. Nähe entsteht auch anders, als wir es seit dem späten Mittelalter gewohnt sind.

Foto Markus Ries

Markus Ries

Professor für Kirchengeschichte; Prorektor Universitätsentwicklung
unilu.ch/markus-ries