Philosoph Giovanni Ventimiglia forscht zu Aristoteles’ Metaphysik. Wie sie nach Europa kam, wie sie sich wandelte und totgesagt wurde, weshalb sie heute noch wichtig ist – und was Luzern damit zu tun hat.

grosslettrig mit «Metaphysica» betitelte Handschrift
Eine der im Rahmen der Recherchen in einem Klosterarchiv gefundenen Handschriften von 1648. (Bild: Chiara Paladini)

Giovanni Ventimiglia, womit beschäftigt sich die Metaphysik heute?

Giovanni Ventimiglia: Die Metaphysik ist eine universelle Wissenschaft, die sich mit den Eigenschaften von allem auseinandersetzt, das es gibt. Sie sucht nach allgemeinen Eigenschaften aller Entitäten in unserem Universum – von Molekülen zu Steinen, zu Gott, zum Big Bang, von den Mikroentitäten zum Makrouniversum, von Physischem, wie dem Magazin, in dem dieses Interview nun zu lesen ist, bis zu abstrakten Ideen und fiktiven Figuren wie Pegasus oder Harry Potter. Sie fragt: Was haben sie alle gemeinsam?

Warum ist das wichtig?

Wie schon der antike Philosoph Aristoteles festgestellt hat, beschäftigen sich alle Disziplinen der Wissenschaft mit einem Teil von dem, was es gibt: die Mathematik mit den Zahlen, die Physik mit den materiellen Objekten, die Biologie mit den Lebewesen. Die Metaphysik ist die universelle Disziplin. Sie schliesst nichts aus. Und das ist in unserer heutigen Welt umso wichtiger, weil wir alle zu Fachspezialistinnen und Fachidioten geworden sind, die sich mit einem winzigen Teil unseres Universums beschäftigen. Das ist nicht falsch, aber es fehlt ein Überblick. Die Metaphysik behält den Überblick. Das ist an sich eine typische menschliche Fähigkeit. Mit dem Denken über das ganze Universum, zu dem wir fähig sind, behalten wir den Überblick.

Zum Beispiel in Ihrer Antrittsvorlesung 2017 hatten Sie nachgezeichnet, wie die Metaphysik von Aristoteles ins christliche Westeuropa kam. Das ist nämlich gar nicht so selbstverständlich, obwohl Aristoteles Grieche war.

Giovanni Ventimiglia, Professor für Philosophie an der Theologischen Fakultät

Genau, die Metaphysik wurde in Athen vor allem durch Aristoteles im 4. Jahrhundert v. Chr. begründet. Von da breitete sie sich bis nach Konstantinopel aus, geriet da aber in Vergessenheit. Aristoteles galt in der Zeit der Christianisierung als Heide, und seine Schriften waren deshalb verpönt. Im Gegensatz dazu haben die Abbasiden aus Bagdad vom 8. bis ins 10. Jahrhundert eigens Übersetzer nach Konstantinopel geschickt, die Aristoteles’ Schriften ins Arabische übersetzten und in die muslimische Welt brachten. Von da aus gelangten sie erst im 13. Jahrhundert nach Palermo, wo sie ins Lateinische übersetzt und als Erstes an der eben neu gegründeten Universität von Neapel gelehrt wurden.

Und dann taucht ab der Reformation der Begriff «Ontologie» im Zusammenhang mit Metaphysik auf. Was hat es damit auf sich?

Die Metaphysik hat heute zwei Säulen: einerseits die Metaphysik als philosophische Theologie, die sich mit der ersten Ursache des Universums beschäftigt, also mit Gott. Andererseits gibt es die Metaphysik als Ontologie. Sie beschäftigt sich mit allem, was es gibt. Vor der Entwicklung des Begriffs Ontologie wurde alles unter den Begriff der Metaphysik gefasst, ein grosses Durcheinander. Heute ist man so weit, dass unter Metaphysik fast nur noch Metaphysik als Ontologie verstanden wird.

Bei der säkularen Wende kam insbesondere dem Jesuitenkollegium in Luzern, aus dem ja die Theologische Fakultät und die Universität Luzern entstanden sind, eine wichtige Rolle zu.
Giovanni Ventimiglia

Die Titel ihrer beiden vom Nationalfonds (SNF) geförderten Projekte deuten an, dass die Schweiz daran nicht unwesentlich beteiligt war: «Metaphysik und Ontologie in der Schweiz im Zeitalter der Reformation (1519–1648)» (2016–2019) und «Zwischen monastischer und reformierter Metaphysik. Die schweizerische ‹Wiege› der Ontologie im Zeitalter der Reformation» (2020–2023) (siehe Box).

Richtig! Raul Corazzon und mein Forschungsmitarbeiter Marco Lamanna entdeckten ein Werk, das der damalige Rektor Jacob Lorhard des reformierten Gymnasiums von St. Gallen veröffentlicht hatte. In diesem Werk von 1606 wurde der Ausdruck «Ontologie» zum ersten Mal verwendet. In der Zeit der Reformation erfolgte eine eigentliche säkulare Wende in der Ausbildung der Philosophen in der Schweiz. Im eben abgeschlossenen Forschungsprojekt, in dem Marco Lamanna und Chiara Paladini alte Handschriften aus Klosterarchiven untersuchten (siehe Box), konnten wir nachweisen, dass insbesondere dem Jesuitenkollegium in Luzern, aus dem ja unsere Theologische Fakultät und die Universität Luzern entstanden sind, eine wichtige Rolle zukommt.

Jesuiten aus Luzern haben die Philosophie verweltlicht?

Es scheint effektiv so, dass sie einen Prozess der «De-Theologisierung» der Philosophie eingeleitet haben. Im Mittelalter fokussierten sich Benediktiner und Zisterzienser, die in Engelberg, Einsiedeln und St. Urban an den Klostergymnasien unterrichteten, vorrangig auf die Schriften von Augustinus, Boethius, Anselm und Wilhelm von Saint-Thierry, die sehr fromm waren. Im Jesuitenkollegium in Luzern, wo sie Theologie studierten, lernten sie dann ab der frühen Neuzeit eine Metaphysik, die auf den Grundlagen des Aristoteles und den Kommentaren von Thomas von Aquin und den Werken von Johannes Duns Scotus und dem Jesuiten Francisco Suárez basierte.

Das bedeutet, dass die Metaphysik, in der bis dahin zwei Methoden, nämlich die des Diskurses über Gott und die des Diskurses mit Gott, also Studium und Gebet, nebeneinander existierten und manchmal durcheinandergerieten, in eine akademische, objektive und nicht-fromme Disziplin umgewandelt wurde, in eine nur mit der Vernunft und nicht mit dem Glauben geführte Forschung über die Existenz und die Eigenschaften Gottes. Nach ihrem Studium in Luzern brachten die Mönche diese Philosophie in die Innerschweizer Gymnasien.

Unsere Universität kann also auf eine sehr lange Tradition des metaphysischen Denkens in Luzern zurückblicken. Und heute?

Die Universität Luzern ist neben der Universität Genf die einzige Schweizer Universität, die sich heute mit der mittelalterlichen Metaphysik und ihrer Geschichte beschäftigt. Früher gab es auch in Zürich und Basel Mittelalterliche und Scholastische Philosophiegeschichte, aber ihre Professuren wurden nicht verlängert. So ist Luzern zu einem Forschungszentrum der – insbesondere mittelalterlichen und scholastischen – Philosophiegeschichte in der Schweiz geworden.

Wenn wir die arabischen Quellen verstehen, verstehen wir auch die mittelalterliche europäische Philosophie besser.

Zurzeit betreuen Sie das vom SNF geförderte Doktoratsprojekt von David Anzalone, «Plato as Seen by Aristotle, as Seen by Medieval Commentators on the Metaphysics between the 1230s and the 1350s» und das SNF-Forschungsprojekt «Senses of Being. The Medieval Reception of Aristotle’s Doctrine Starting from Metaphysics V 7 (1017 a7-b9)». Warum konzentrieren sich beide auf das Mittelalter?

Zu dieser Zeit wurden die lateinischen Übersetzungen aus dem Arabischen angefertigt. Die Übersetzungen lieferten einen grossen Impuls und die Kommentare und Weiterentwicklungen der damaligen Philosophen hatten einen nachhaltigen Einfluss auf die europäische moderne Philosophie.

Bei der europäischen Philosophie hören Sie aber nicht auf, Sie interessieren sich auch für Brücken in andere monotheistische Religionen. Wie finden diese Eingang in Ihre Forschung?

Wir erforschen nicht nur die Rezeption in die lateinische Welt, sondern auch ihren Weg durch die muslimische Welt. Ohne die Rezeption im 8. Jahrhundert in der arabischen Philosophie wäre die spätere Rezeption in der europäischen Welt nicht möglich gewesen. Die Übersetzungen ins Lateinische stammen wie gesagt nicht aus dem Altgriechischen, sondern aus dem Arabischen. Wenn wir die arabischen Quellen verstehen, verstehen wir auch die mittelalterliche europäische Philosophie besser. Im Projekt «Senses of Being» sind deshalb drei Forschungsmitarbeitende für arabische Philosophie – Mostafa Najafi, Ali Taghavinasab und Zachary Candy – dabei.

Sie forschen schon lange im Bereich der Metaphysik. Was interessiert Sie so besonders daran?

Um es plakativ zu sagen: Die Metaphysik ist etwas Unnützliches. Und ich verteidige die Bedeutung der Unnützlichkeit für die moderne Gesellschaft. Wir leben unter der Diktatur des «Nützlichen». Wenn wir nicht nützlich sind, sind wir nicht Teil der Gesellschaft. Aber denken Sie an Liebesgedichte für Verstorbene oder Unerreichbare. Sie sind nicht nützlich, aber was wäre unsere Literatur und Kulturgeschichte ohne sie? Die Unnützlichkeit ist es, was uns zu Menschen macht.

Die Metaphysik wurde im 20. Jahrhundert totgesagt, doch sie ist heute wieder brandaktuell: Wenn die Maschinen bald so effizient werden, dass sie fast alle unserer Aktivitäten übernehmen können, was wird uns bleiben? Uns wird die Metaphysik bleiben. Maschinen können Metaphysik nicht betreiben. Es wird uns bleiben, uns mit den unnützlichen Dingen zu beschäftigen. Statt von Unnützlichkeit könnten wir auch von Musse (lat. otium, altgr. scholé) sprechen. Maschinen kennen keine Musse. Wir müssen die Musse verteidigen, um menschlich zu bleiben. Und Metaphysik ist eine Wissenschaft der Musse.

Funde in Klosterarchiven

mysteriöses Motiv: ähnlich einem Tunnel ist aus totaler Dunkelheit heraus ein hell erleuchteter weisser Gang zu sehen

Chiara Paladini und Marco Lamanna haben im Projekt «Zwischen monastischer und reformierter Metaphysik. Die schweizerische ‹Wiege› der Ontologie im Zeitalter der Reformation» in den Klosterarchiven der Schweiz nach vergessen gegangenen Manuskripten aus dem 17. Jahrhundert geforscht. Mönche an Klosterschulen und Lehrer an reformierten Gymnasien halfen damals mit, die Aristotelische Metaphysik in der Schweiz zu verbreiten (siehe Haupttext).

Die beiden Postdoc-Forschenden an der Professur für Philosophie an der Theologischen Fakultät durchforsteten zahlreiche staubige Bücher und transkribierten die ersten Seiten in alter Schrift, um herauszufinden, was sich darin verbirgt. Insbesondere in Engelberg wurden sie fündig. Statt der erwarteten 1500 fanden sich in den Manuskripten mehrere Tausend Seiten. Knapp 1000 davon hat Paladini transkribiert, um die lateinischen Texte unmittelbar lesbar zu machen. Dabei ist ihr besonders die deutsche Färbung des Lateins aufgefallen: Satzstellungen entsprechen nicht dem klassischen Latein, sondern scheinen deutscher Grammatik angelehnt.

Zu Aha-Momenten kam es immer dann, wenn den Forschenden beim Lesen klar wurde, dass genau dieser Text schon in einem anderen Manuskript vorhanden war. Damit konnten sie Verbindungen zwischen den Professoren am Jesuitenkollegium in Luzern und ihren Schülern und späteren Lehrern der Klosterschulen ziehen. Die Philosophielehrer hatten während ihres Studiums in Luzern die ihnen wichtig erscheinenden Texte abgeschrieben und an ihre Schulen mitgebracht, um sie da weiterzulehren. (fw.)

Franziska Winterberger

Mitarbeiterin Wissenstransfer und Kommunikation an der Theologischen Fakultät