Simon Erlanger liest "Churchill, der letzte Löwe"
Bild: Roberto Conciatori

Nach vielen Jahren nahm ich es kürzlich aus dem Regal, das zerlesene, vergilbte, mit Notizen und Anmerkungen versehene Paperback. «The Last Lion. Winston Spencer Churchill. Visions of Glory, 1874–1932»: So heisst Band 1 der legendären dreibändigen Biografie von Winston Churchill, verfasst vom US-Historiker William Manchester. Anlass der erneuten Lektüre war der aktuelle Kinofilm «Darkest Hour». Dieser zeigt, wie Churchill im Sommer 1940, als die Nazis kurz davorstanden, Europa zu überrennen, das Steuer herumwarf und die Briten dazu brachte, bis zur Niederlage Deutschlands weiterzukämpfen.

Nirgendwo sind diese dramatischen Tage besser erzählt als in der Einleitung zu Manchesters Churchill-Biografie. Es war das erste Buch, dass ich auf Englisch las, mit knapp 18 Jahren, kurz nach der Publikation 1983. Genau erinnere ich mich nicht mehr an den Leseprozess, aber er war langsam und mühsam. Jedes zweite Wort galt es im Wörterbuch nachzuschlagen. Die gefundenen Übersetzungen schrieb ich zwischen die Linien des Textes. Mit fortschreitender Lektüre ging es immer besser: So nehmen die Notizen ab der Hälfte des fast 1000-seitigen Texts ab, zum Schluss verschwinden sie völlig – das Sprachverständnis nahm zu. Die Lektüre eröffnete mir die Welt der angelsächsischen historischen Publizistik. Ich war begeistert von William Manchesters Sprachgewalt und der Art und Weise, wie er vergangene Welten plastisch wiederauferstehen lässt. So beispielsweise das chaotische, rasant wachsende, dreckige Grossstadt-London aus Churchills viktorianischer Jugend. Als einer der Ersten hatte Manchester Sozial-, Wirtschafts-, Klima-, Gender- und Politikgeschichte mit der Gattung der politischen Biografie vereint. Die historischen Genres werden zu einem Narrativ verflochten, das die Leserinnen und Leser nicht mehr loslässt. Nicht umsonst hat das «Time Magazine» den ersten Band zu den hundert wichtigsten englischsprachigen Büchern gekürt.  35 Jahre nach seinem Erscheinen bleibt das Buch lesenswert. Mich hat es seinerzeit im Entschluss bestärkt, Historiker zu werden.
 

Buchcover "The Last Lion"

William Manchester
The Last Lion. Winston Spencer Churchill. Visions of Glory, 1874–1932
Boston 1983 (Erstausgabe)

Simon Erlanger
Lehr- und Forschungsbeauftragter am Institut für Jüdisch-Christliche Forschung (IJCF)
unilu.ch/simon-erlanger