Religiöse Identität trennt und verbindet

Religion als soziale Identität ist für 50 Prozent der Bevölkerung in der Schweiz und für 57 Prozent in Deutschland wichtig. Wie erste Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage von Forschenden der Universitäten Luzern und Leipzig zeigen, kann Religion trennen, aber auch verbinden. Gesamtgesellschaftlich wirkt Religion zudem strukturierend für unterschiedliche Typen sozialer Identität.

Soziale Identitäten und damit Merkmale und Gruppen, mit denen Menschen sich identifizieren, haben in letzter Zeit an Bedeutung gewonnen. Das zeigt sich insbesondere an der veränderten Wichtigkeit religiöser Identitäten in Öffentlichkeit und Politik. Damit einher geht eine Verunsicherung in der Öffentlichkeit über den Umgang mit religiösen Zugehörigkeiten und speziell mit Muslimen.

 

Grafik Wichtigkeit soziale Identität Religion

Soziale Identitäten breit erfasst

Mit einer repräsentativen Umfrage mit jeweils rund 3000 Befragten im Rahmen des Projekts "Konfigurationen individueller und kollektiver religiöser Identitäten und ihre zivilgesellschaftlichen Potentiale (KONID)" wollen die Forschenden analysieren, welchen Einfluss soziale und insbesondere religiöse Identitäten auf Integrations- bzw. Konfliktpotentiale in Deutschland und der Schweiz besitzen. In einem neu entwickelten Befragungsinstrument wurden 21 mögliche soziale Identitäten differenziert und damit deutlich präziser als bisher erfasst und in ihre gesellschaftlichen und religiösen Kontexte gestellt.

Familie und Freundeskreis am wichtigsten – Religion im Mittelfeld

Religion ist demnach eine wichtige, aber nicht die wichtigste soziale Identität. Die Familie etwa wird von über 80 Prozent und der Freundes- und Bekanntenkreis von knapp 70 Prozent der Befragten als wichtig eingestuft. Religion folgt im Mittelfeld, noch vor dem Herkunftskanton oder der Sprachregion.

 

Grafik Wichtigkeit sozialer Identiäten

Mitglieder von Freikirchen und Muslime häufiger diskriminiert

Religiöse soziale Identitäten sind Gegenstand und Anlass von Diskriminierungen. Das Ausmass erfahrener religiöser Diskriminierung ist in Deutschland wie in der Schweiz insgesamt moderat, wobei Diskriminierung aufgrund der Religion in der Schweiz vor allem von Mitgliedern der Freikirchen (selten oder öfter: 69%) und von Muslimen (56%) erfahren werden. Zugleich dient Religion vielen als eine soziale Identität, anhand derer soziale Distanz hergestellt und Ausgrenzungen vorgenommen werden. Gut ein Viertel der Christen zieht eine Heirat mit Nicht-Christen nicht in Betracht. Für rund 40 Prozent der Muslime scheiden Nicht-Muslime als Heiratspartner aus.

 

Grafik Diskriminierungserfahrung aufgrund der Religion

Religiösen Dogmatismus mit Religionsgemeinschaften thematisieren

Bei der Umfrage wurde auch erhoben, wie die Befragten die Grenzziehung zwischen demokratischem Gemeinwesen und religiöser Wahrheit vornehmen. Eine Überordnung religiöser Ansichten und Wahrheiten über die Verfassung oder gar die Bereitschaft, Gewalt für den eigenen Glauben einzusetzen, ist selten. Wenn, dann sind solche Positionen bei Angehörigen von Freikirchen und bei Muslimen ausgeprägter. Der entscheidende Befund ist aber, dass ein gewisses Mass an Zustimmung über alle religiösen Bekenntnisse hinweg auftritt. Das politisch relevante Problem lautet daher, dogmatische und zum Extremismus zählende Positionen allgemein in den Blick zu bekommen und zusammen mit den Religionsgemeinschaften zu thematisieren. Bei extremistischen Positionen im Kontext religiöser Identitäten handelt sich also nicht wie vielfach vermutet um ein ausschliessliches Problem "des Islam" als Religion.

Religion fördert Gesellschaft und Zusammenhalt

Religion trennt nicht nur, vielmehr fördert sie auch den Zusammenhalt der Gesellschaft. Religiöse soziale Identitäten steigern das ehrenamtliche Engagement, und religionsbezogenes freiwilliges Engagement fördert den Kontakt zwischen Menschen, die sich sonst im Alltag nicht begegnen. Solches Engagement kann Brücken bauen. Zudem zeigt sich: Wem seine religiöse Identität wichtig ist, der hält auch den interreligiösen Dialog für wichtig. Die Befürwortung dieses Dialogs ist unter den religiösen Minderheiten und insbesondere unter den muslimischen Befragten am stärksten. Hier wird das grosse Potenzial sichtbar, das für einen solchen Dialog gesellschaftlich vorhanden ist. Ein weiteres Potenzial: In beiden Ländern herrscht ein nahezu geschlossener Konsens über den zentralen Stellenwert der Religionsfreiheit. Auch so kann religiöse Verschiedenheit verbinden und Gesellschaft fördern.

 

Grafik Brückenbildendes Engagement

Religion strukturiert soziale Identitäten

Trotz der zunehmenden Komplexität der Konstruktion sozialer Identitäten beim Einzelnen ist Religion in der Schweiz wie in Deutschland gesamtgesellschaftlich eine Grösse, die soziale Identitäten nachhaltig strukturiert. Für beide Länder konnten die Forschenden fünf Konfigurationen sozialer Identitäten identifizieren: "Zugehörigkeitsorientierte", "Umfeldorientierte", "Religionsorientierte", "Familienorientierte" und "Selbstorientierte". Die soziale Identität Religion ist bei allen Konfigurationen ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal. Hier sind weitere Forschungen gefragt.

 

Grafik Konfigurationen Sozialer Identitäten in der Schweiz

"Konfigurationen individueller und kollektiver religiöser Identitäten und ihre zivilgesellschaftlichen Potentiale" – das Forschungsprojekt und der KONID Survey 2019

Die Umfrage ist Teil des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) geförderten deutsch-schweizer Forschungsprojekts "Konfigurationen individueller und kollektiver religiöser Identitäten und ihre zivilgesellschaftlichen Potentiale (KONID)". Der KONID Survey 2019 ist eine repräsentative Bevölkerungsumfrage für die Wohnbevölkerung der Schweiz und Deutschlands im Alter von über 16 Jahren zum Thema Zivilgesellschaft, soziale Identitäten und Religion. In der Schweiz und in Deutschland haben sich im ersten Halbjahr 2019 jeweils über 3000 Befragte an der Umfrage beteiligt. Das Projekt wird von Prof. Dr. Antonius Liedhegener an der Universität Luzern und von Prof. Dr. Gert Pickel an der Universität Leipzig geleitet. Weitere Autoren des Berichts sind die Teammitglieder Anastas Odermatt (Luzern), Yvonne Jaeckel und Dr. Alexander Yendell (beide Leipzig). Das KONID-Projekt steht für den quantitativen Teil des interdisziplinären Forschungsverbundes "Soziale Gruppen und religiöse Identitäten in ziviler Gesellschaft (RESIC)", an dem Prof. Dr. Martin Baumann (Luzern) und Prof. Dr. Alexander K. Nagel (Göttingen) mit zwei qualitativen Projekten beteiligt sind.

 

Weitere Informationen

Bericht "Wie Religion 'uns' trennt – und verbindet: Befunde einer Repräsentativbefragung zur gesellschaftlichen Rolle von religiösen und sozialen Identitäten in Deutschland und der Schweiz 2019"

Forschungsverbund "Soziale Gruppen und religiöse Identitäten in ziviler Gesellschaft (RESIC)"

Projekt "Konfigurationen individueller und kollektiver religiöser Identitäten und ihre zivilgesellschaftlichen Potentiale (KONID).

Die Schweizer Autoren der Studie, Prof. Dr. Antonius Liedhegener und Anastas Odermatt MA, stehen im Rahmen eines Info-Anlasses am 11. Dezember 2019 an der Universität Luzern Rede und Antwort. Der Anlass findet von 11.30 bis 13.30 Uhr im Foyer der Universität Luzern statt.

Kontakt

KONID-Team Schweiz
Prof. Dr. Antonius Liedhegener
Universität Luzern
Zentrum für Religion, Wirtschaft und Politik (ZRWP)
Frohburgstr. 3 / PF 4466
CH-6002 Luzern
Tel: +41 41 229 59 13
E-Mail: antonius.liedhegenerremove-this.@remove-this.unilu.ch

KONID-Team Deutschland
Prof. Dr. Gert Pickel
Universität Leipzig
Theologische Fakultät
Martin-Luther-Ring 3
D-04109 Leipzig
Tel: +49 341 97354 63
E-Mail: pickelremove-this.@remove-this.rz.uni-leipzig.de