Pop-Ästhetik und Protestsongs. Ein Rückblick auf die 1968er Zeit

Im Rahmen eines kulturwissenschaftlichen Seminars diskutierten der Schweizer Jazzmusiker Bruno Spoerri und der Pop-Kenner Christian Schorno über die Schweizer "Popszenen" der 1960er und 1970er Jahre. Gemeinsam wurden Horizonte und Utopien ausgelotet.

Im Rahmen des kulturwissenschaftlichen Hauptseminars "Popmusik – Soundtrack des Lebens" fand am 1. Oktober ein von Ursula Ganz-Blättler moderiertes Gespräch statt. Der Schweizer Jazzmusiker Bruno Spoerri und der Pop-Kenner, Archivar und Chronist Christian Schorno hielten Rückschau auf die 1960er und 1970er Jahre, um den musikalischen Schweizer "Popszenen" von damals auf den Zahn zu fühlen.

„1968“ gilt ja bekanntermassen als Chiffre für ganz viele Dinge: Das Datum steht für eine Jugendkultur, die sich als solche deutlicher als jemals zuvor abgrenzte von der Kultur der Eltern-Generation. Und sie steht für Veränderung, "Pop" als Ästhetik und ganz allgemein für das Thema Aufbruch. Und damit wiederum für alle möglichen Brüche – mit der väterlichen Autorität, mit den konservativen Leitbildern der Nachkriegszeit und mit einem musikalischen Mainstream, der zwar selbstverständlich Populäres umfasste (wie den deutschen Schlager und Volkstümlich-Lüpfiges), zu dem sich aber "Pop" doch als deutlich hipperes Gegenstück inszenierte.

Bruno Spoerri ist vor allem als innovativer Jazzmusiker bekannt, der schon früh den Computer als Klangkörper entdeckte und mit seinen eigenwilligen Kompositionen (wie z.B. Les Electroniciens) ganze Generationen von Musikern inspiriert hat. Weniger bekannt ist die Tatsache, dass er über alle die Jahre für eine Vielzahl von Film- und Werbekompositionen sorgte besorgt war und bei vielen Plattenproduktionen der Pop-Ära im Hintergrund mitwirkte. Entsprechend vielfältig und hands-on waren denn auch seine Geschichten und Anekdoten aus einer Zeit, die vielen späteren Popgrössen eine Plattform bot – aber auch zu vielen eigenwilligen Kooperationen (wie etwa dem Sponsoring von Pop- und Folk-Kompilationsalben durch den Getränkemulti PepsiCo) Hand bot. (Pepsi-Album)

Das Gespräch vom 1. Oktober zu "1968" als Signatur einer Zeitenwende hat gleich zu Beginn zwei weit verbreitete Überzeugungen in Frage gestellt. Der Tonstudiobetreiber Bruno Spoerri gab als Zeitzeuge von damals zu bedenken, dass die Zeitspanne von 6-8 Jahren VOR 1968 und NACH 1968 wahrscheinlich für den Schweizer Pop die wesentliche kreative Hoch-Zeit des Umbruchs bedeuteten. Der Zürcher Pop-Experte Christian Schorno (Website: www.musikzimmer.ch) hingegen rief der Zuhörerschaft in Erinnerung, dass die Hitparaden anno 1968 eben gerade nicht von den heutigen Evergreens der damaligen Pop-Grössen (Beatles, Rolling Stones und Co.) bestimmt waren, sondern von Schlagern wie etwa "Monja" (von Roland W.) und von den ohrumschmeichelnden Balladen der Bee Gees ("Massachusetts").

Während Spoerri vor allem auf die Zusammenhänge zwischen Folkmusik und politischem Protest verwies und dabei auch die Produktionsbedingungen der frühen Schweizer Pop- und Rockmusik in den Fokus nahm, ging Christian Schorno auf die übergreifenden musikalischen und gesellschaftlichen Entwicklungen unmittelbar vor 1968 ein.

Auf die Anfrage aus dem Publikum, ob es vergleichbares Protestpotential auch heute noch gäbe, waren sich beide Gesprächspartner einig, dass sich vieles am Verhältnis zwischen populärer Jugendkultur und gesellschaftlicher Wahrnehmung bzw. Akzeptanz gewandelt habe. Die Gesellschaft sei insgesamt toleranter geworden, und die heutigen politischen Engagements kämen grösstenteils aus anderen Feldern wie zum Beispiel aus der Genderpolitik. Das sei aber nicht Grund genug, um von einer "Entpolitisierung" der Jugendkultur zu sprechen.

Die besungenen (und von Bands wie Einzelinterpreten selbstverständlich vorgelebten) Lebensentwürfe mögen heute weniger provokativ bzw. utopisch anmuten als noch zur Blütezeit von Beat, Rock und Punk. Aber die emanzipatorischen Anliegen, die im Pop immer wieder für ein breites Publikum hör- und sichtbar werden, haben auch heute ihre Berechtigung – und finden ihren musikalisch-ästhetischen Ausdruck.