Aristoteles’ Metaphysik: Wörterbuch für Christen und Muslime

Aristoteles hat im fünften Buch seiner Metaphysik viele Wörter definiert, die heute noch verwendet werden. Prof. Dr. Giovanni Ventimiglia untersucht hierzu in einem Nationalfonds-Projekt die Kommentare verschiedener mittelalterlicher arabischer und lateinischer Philosophen in der islamischen und christlichen Welt.

(Symbolbild: pixabay.com/Couleur)

Giovanni Ventimiglia, Professor für Philosophie an der Theologischen Fakultät, und sein Forschungsteam beschäftigen sich seit mehreren Jahren mit der Analyse der sogenannten «kulturellen DNA des Westens». Aristoteles zählt sicherlich als ihr Rückgrat, denn nicht nur ist unsere Denkweise tief in seiner Philosophie verwurzelt, sondern sogar auch unsere Sprache trägt seine Spuren, so Ventimiglia. «Potenzial», «potenziell», «Substanz», «substantiell», «Akt», «Kategorie», «Spezies» und viele andere Wörter sind alle nämlich aristotelischen Ursprungs, erklärt er weiter. Aristoteles hat im fünften Buch seiner Metaphysik ein echtes Wörterbuch eingefügt, in dem er viele Wörter definiert hat, die wir auch nach 2400 Jahren verwenden. In ihrem Projekt untersuchen Ventimiglia und sein Forschungsteam veröffentlichte und unveröffentlichte Kommentare verschiedener mittelalterlicher arabischer und lateinischer Philosophen in der islamischen und christlichen Welt zu diesem Teil des fünften Buches der Metaphysik.

Die Bedeutung von «sein»

Während die Metaphysik Aristoteles’ sich in der islamischen Welt weiterentwickelte, ins Arabische übersetzt und kommentiert wurde, erreichte sie auch die christliche Welt durch Übersetzungen aus dem Arabischen in die lateinische Sprache im dreizehnten Jahrhundert. Aristoteles’ Wörterbuch, das ins Arabische, dann ins Lateinische und dann in alle Sprachen der Welt übersetzt wurde, war und ist ein Vokabular, das Musliminnen und Muslime sowie Christinnen und Christen gemeinsam haben. Beide verwendeten insbesondere das Wort «sein» – auf Arabisch «wujūd», auf Latein «esse» –, um die Bedeutung von Sätzen wie etwa «Sokrates existiert», «die Blindheit existiert», «das Böse existiert», «Gott existiert» zu verstehen und zu analysieren. Eine der zentralen Fragen, die sich alle Philosophen und Theologen immer wieder stellen, ist dieselbe wie von Aristoteles gestellt: Ist die Bedeutung des Verbs «existiert» in all diesen Sätzen gleich? «Existiert» die Blindheit in demselben Sinne, in dem Sokrates «existiert»? Und «existiert» Gott in demselben Sinne, in dem das Böse «existiert»? Dies sind Themen, die nicht nur im Mittelpunkt der mittelalterlichen Debatten standen, sondern auch noch heute Fokus der lebhaftesten zeitgenössischen internationalen philosophischen und theologischen Debatten sind. Und nicht zuletzt sind sie sowohl für Christinnen und Christen als auch für Musliminnen und Muslime sind sie nach wie vor von Interesse. Mit diesem Projekt untersuchen Giovanni Ventimiglia und sein Forschungsteam ein weiteres Puzzleteil im langfristigen Forschungsvorhaben, die kulturelle ­­— oder besser: multikulturelle — DNA des Westens zu verstehen.

  • Originaltitel des Projekts und Übertragung ins Deutsche: «Senses of Being. The Medieval Reception of Aristotle’s doctrine starting from Metaphysics V 7 (1017 a7-b9)» («Die Sinne des Seins. Die mittelalterliche Rezeption der aristotelischen Lehre ausgehend von Metaphysik V 7, 1017 a7-b9»)
  • Leitung: Prof. Dr. Giovanni Ventimiglia, Professor für Philosophie an der Theologischen Fakultät
  • Projektbeteiligte und Mitarbeitende: Dr. Mostafa Najafi, Assistent an der Professur für Islamische Theologie; Prof. Dr. Nadja Germann, Professorin für Arabische Philosophie, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg; Dr. Marta Borgo, Commissio Leonina, Paris; Dr. Iacopo Costa, CNRS und Commissio Leonina, Paris; eine Doktorandin oder ein Doktrorand (noch zu bestimmen)
  • Projektdauer: 48 Monate
  • Bewilligte Fördersumme des Schweizerischen Nationalfonds (SNF): CHF 960'000 (gerundet)