Selbstviktimisierung

Weshalb ist die Selbstdarstellung als leidendes Opfer von Unrecht die grosse Verlockung? Dieser Frage geht Valentin Groebner im Novemberheft des «Merkur» nach.

 

Sommer 1992. Ich war gerade in die Schweiz gezogen, und mein ehemaliger Mitbewohner aus der Studienzeit war mich besuchen gekommen für eine Bergtour ins Tessin. Weil es unter der Woche war, hatten wir abends die Selbstversorgerhütte für uns alleine, auf 2000 Metern Höhe mit unglaublichem Blick über das Verzascatal. Es gab einen Herd mit Feuerholz und mehrere Flaschen mit lokalem Wein, für den man, wie fürs Übernachten, Geld in eine Kasse warf, auf Vertrauensbasis. Nach zwei Tellern Spaghetti und der angebrochenen Flasche dachte ich mit sonnenverbrannter Nase am knackenden Ofen, dass es besser doch gar nicht sein könne auf dieser Welt: selige, etwas beschwipste alpine Idylle.

(Dieser Text ist im Novemberheft 2022, Merkur # 882, erschienen.)

Meinem Begleiter ging es anders. Er fing an zu erzählen, was alles anders geworden sei, seitdem er sein Studium beendet habe und den Job bei der Landeskirche angetreten. Je länger er erzählte, desto düsterer wurde er, trotz der schönen Aussicht vor unserem Fenster.  Weiterlesen