«Mitgehangen, mitgefangen!» Oder: Wozu Verfahren?

Justus Heck, Adrian Itschert und Luca Tratschin haben sich mit Entscheidungsverfahren in Politik und dem Recht auseinandergesetzt und ein Themenheft der Zeitschrift «Soziale Systeme» herausgegeben. Darin untersuchen sie die Aktualität der Verfahrenstheorie des Soziologen Niklas Luhmann gemeinsam mit anderen Autorinnen und Autoren. Sie sind dabei zum Schluss gekommen, dass Verfahren nach wie vor die darin beschriebene Legitimationsfunktion erfüllen – auch wenn das Bild heute komplexer geworden ist.

Adrian Itschert, was ist mit Legitimation durch Verfahren gemeint?

Adrian Itschert: Mit Legitimation durch Verfahren meinte der Soziologe Niklas Luhmann, dass Verfahren die Funktion haben, Akzeptanz für Entscheidungen herzustellen: Das Gerichtsurteil oder eben auch die Entscheidung, wer ein politisches Amt ausüben darf, wird durch die Veranstaltung eines Verfahrens bestimmt und legitimiert. Der Prozess sichert gewissermassen die Hinnahmebereitschaft für das Ergebnis.

Wie ist das zu verstehen?

Adrian Itschert: Also die Idee ist hierbei, dass die Personen, die sich an einem Verfahren beteiligen, durch das Verfahren in einen Entscheidungsprozess eingebunden werden: Klägerin und Angeklagter werden angehört, politische Kandidaten können sich im Wahlkampf präsentieren und dann auf dieser Grundlage in den Wahlprozess eintreten. Wenn man sich auf solch ein Verfahren einlässt, erkennt man gewissermassen dessen Rechtmässigkeit an und lässt sich auf einen offenen Ausgang ein. Wer im Gerichtsverfahren unterliegt oder nicht in ein politisches Amt gewählt wird, kann  nachher lamentieren, aber er wird nicht mehr Ernst genommen, weil er sich ja am Verfahren aktiv beteiligt hat

Luca Tratschin: Sehr salopp gesagt gilt: «mitgehangen, mitgefangen» (lacht). Die Einbindung in das Verfahren heisst dann eben auch: Bindung an das Ergebnis des Verfahrens. Das ist eigentlich mit Legitimation durch Verfahren gemeint.

Ok. Aber man kann doch im Nachhinein gegen das Ergebnis sein und sich beklagen, oder? Ein Verfahren allein garantiert ja nicht, dass die Verlierer die Entscheidung als legitim empfinden.

Justus Heck: Natürlich ist man als Verlierer üblicherweise enttäuscht. Diese Enttäuschung kann auch dazu führen, dass man das Verfahren oder zumindest sein Ergebnis dann doch unfair findet. Luhmanns Pointe war auch gar nicht, dass die Parteien gleichermassen zufrieden und ohne individuell gefühlte Ungerechtigkeit aus dem Verfahren hervorgehen, so wie das in der sozialpsychologischen «procedural justice»-Forschung eher der Fall wäre. Es ist ja offensichtlich: Kläger und Angeklagter können nicht beide vor Gericht «gewinnen» und es ist gerade die Logik von Wahlen, dass die meisten Kandidaten nicht in ein Amt gewählt werden. Es gibt also sehr viel Frustrationspotential. Der Witz ist aber, dass man zum Beispiel als abgewählter Amtsinhaber mit seinem Frust isoliert wird: Natürlich kann man sich beklagen, da man aber eine faire Chance hatte, wird man wenig Unterstützung für seinen Frust finden. Die unbeteiligte Öffentlichkeit nimmt das Urteil mit einem Achselzucken hin.

Ist das wirklich so?

Luca Tratschin: Natürlich können Freunde oder Familienmitglieder auch enttäuscht sein, wenn ein Kandidat für ein politisches Amt nicht gewählt wird. Im privaten Bereich muss man also nicht unbedingt allein bleiben. Aber man bleibt es dann eben in der politischen oder der rechtlichen Sphäre.

Was ist denn mit Wahlen und Gerichtsprozessen in autoritären Regimen – ist da Legitimation durch Verfahren möglich?

Adrian Itschert: Man muss hier natürlich sagen, dass diese Grundidee nur gilt, wenn weithin die Meinung vorherrscht, dass Verfahren auch korrekt durchgeführt wurden und Richter nicht manipuliert oder Wahlen gefälscht wurden. Das trifft eigentlich nur auf Rechtsstaaten zu. Aber Sie sprechen einen wichtigen Punkt an: Bislang hat die Forschung die gesellschaftlichen Voraussetzungen der Legitimation durch Verfahren noch zu wenig genau beleuchtet – dies ist ein Thema, das in unserem Themenheft auch etwas genauer angeschaut wird.

Vielleicht nochmals eine allgemeinere Frage: Geht es bei Verfahren nicht eigentlich darum, die Wahrheit herauszufinden und die richtige Entscheidung zu treffen?

Luca Tratschin: Das ist natürlich eine wichtige Vorstellung, weshalb wir Verfahren in verschiedenen Gesellschaftsbereichen durchführen: Es soll idealerweise die bestmögliche Entscheidung gefällt werden. Dies gelingt – so die Vorstellung – dann, wenn man die relevanten (und wahren) Informationen herbeizieht: Kandidaten für politische Ämter werden öffentlich auf Herz und Nieren geprüft, in Gerichtsverfahren wird wissenschaftliche Expertise, zum Beispiel zur Schuldfähigkeit eines Angeklagten, aufgeboten. Verfahren hätten sicherlich wenig gesellschaftliche Akzeptant, wenn wir nicht mit dieser Annahme operieren würden.

Justus Heck: Aus soziologischer Sicht kann man dies als den «offiziellen» Zweck von Verfahren betrachten. Der «eigentliche» Zweck – in der soziologischen Fachsprache würde man auch von einer «latenten Funktion» sprechen – besteht aber darin, die Verfahrensverlierer mit ihrem Frust zu isolieren und damit sozial zu neutralisieren. Dies ist – etwas hart formuliert – das, was Niklas Luhmann, mit Legitimation durch Verfahren meint.

Das klingt so, als ob Verfahren eine ziemlich irrationale Veranstaltung wären…

Adrian Itschert: Das würde ich nicht so sagen. Wenn das Rationalitätskriterium wissenschaftliche Wahrheit wäre, dann vielleicht. Man kann sich aber auch fragen, ob es wünschenswert wäre, wenn in der Politik, im Recht oder auch bei Verwaltungsverfahren wissenschaftlich eruierte Wahrheit das ausschlagende Kriterium wäre. Wollte man das, müsste man sich quasi auf eine technokratische Gesellschaftsform einlassen, die bei Ungewissheit  entscheidungsunfähig wäre. Es fragt sich dann, ob man das möchte. Auch wenn das nicht im engeren Sinn mit Verfahren zu tun hat: Gerade bei der Covid-19 Pandemie wurde ja auch öffentlich immer wieder diskutiert, dass Politik eben nicht nur aufgrund von wissenschaftlichem Wissen entscheiden kann…

Als abschliessende Frage: Weshalb haben Sie sich gerade jetzt mit Legitimation durch Verfahren befasst und zu welchen Schlüssen sind sie gekommen?

Justus Heck: Der Anlass für das Projekt war zum einen, dass das Buch «Legitimation durch Verfahren» vor gut 50 Jahren publiziert wurde und damit einen runden Geburtstag feiert [im Jahr 2019, Anm. Fabian Zoller]. Zum anderen stellt sich gerade angesichts eines solchen Jahrestages die Frage, inwiefern diese Theorie heute noch trägt – wir leben doch in einer ganz anderen Welt als damals.

Adrian Itschert: Besonders aufgefallen ist uns, dass viele Verfahrensformen öffentlich vielleicht nun doch umstrittener geworden sind als Luhmanns Theorie unterstellt. Als wir das Projekt entwickelten, waren besonders politischer Populismus und die Kritik an Wahlverfahren – z.B. bei Trump –, Proteste gegen Verwaltungsverfahren – z.B. gegen Stuttgart 21 – sehr sichtbare Phänomene.

Luca Tratschin: Ein zentraler Befund des Buches insgesamt ist, dass Legitimation durch Verfahren nach wie vor hilfreiche analytische Werkzeuge an die Hand gibt, um Verfahren zu verstehen – auch wenn die Situation heutzutage komplizierter geworden. Verfahren erfüllen ihre Legitimationsfunktion prinzipiell nach wie vor, auch wenn das Bild komplexer geworden ist. Gerade dies ist aber auch eine Chance, um die Theorie weiterzuentwickeln und zu verfeinern. Das ist im Grunde auch das Plädoyer, das wir mit dem Buch vertreten wollen.

Mehr Informationen zu "Legitimation durch Verfahren: Zum Entstehungskontext und zur Aktualität eines Nicht-Klassikers" auf der Website des Verlages.

Dr. Adrian Itschert ist Lehrbeauftragter am Soziologischen Seminar der Universität Luzern.

Dr. Luca Tratschin ist Projektleiter am Center for Higher Education and Science Studies der Universität Zürich und Lehrbeauftragter an der Universität Luzern.

Dr. des. Justus Heck ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bielefeld.