Kein klassischer Klassiker

Eine Tagung zu Niklas Luhmanns "Legitimation durch Verfahren" hat die Wirkung des vielzitierten Werks des Soziologen beleuchtet. Adrian Itschert, Luca Tratschin und Justus Heck ist es gelungen, ein reichhaltiges Programm rund um das kontroverse Buch zu gestalten.

Justitia, die blinde Göttin der Gerechtigkeit.
Justitia, die blinde Göttin der Gerechtigkeit.

Von Christoph Gesigora (Universität Bielefeld)

Vertraut man der Suchmaschine "google.scholar.de", dann ist Niklas Luhmanns "Legitimation durch Verfahren" (1969) eines seiner meist zitierten Bücher. Indes könnte die Rezeptionsbilanz durchaus als gemischt bezeichnet werden. Zwar sorgte das Buch zum Zeitpunkt seines Erscheinens für Kontroversen. Heute allerdings ist es ruhig um das Werk geworden, obwohl oder gerade weil dessen blosser Titel als eine Art "traveling concept" in Wissenschaft und Massenmedien kursiert – zumeist recht kontextenthoben und ohne seinen entlarvenden Impetus.

Instruktivität des Werks aufgezeigt

Die verhaltene Rezeption innerhalb der Soziologie deutet zudem darauf hin, dass "Legitimation durch Verfahren" nicht einmal als Klassiker des Fachs anzusehen ist. Dieser Befund steht allerdings in deutlichem Widerspruch zu der durch das Werk hervorgerufenen Inspiration für weitere Forschung und Analysen klassischer wie neuer Verfahrenstypen jüngeren Datums. Von dieser Instruktivität zeugte die von Adrian Itschert, Luca Tratschin und Justus Heck ausgerichtete Tagung "Legitimation durch Verfahren. Rezeption, Kritik und Anschlüsse" am 15. und 16. Februar 2018 an der Universität Luzern.

Das Tagungsprogramm als reichhaltig wie abwechslungsreich zu charakterisieren, ist in Anbetracht der vierzehn Beiträge, die sich auf verschiedene Aspekte des Werks beziehen – ohne dabei starr an der Vorlage zu haften – sicher nicht vermessen. In diesem Sinne wurde beispielsweise im Anschluss an Luhmann das Gerichtsverfahren natürlich vor allem als Interaktion analysiert. Dann aber darüber hinausgehend zum einen thematisiert, wie allzu drastische symbolische Schäden an den Identitäten der Verfahrensbeteiligten vermieden werden, und zum anderen wie die Analyse des Gerichtsverfahrens stärker das Netzwerk der Beziehungen der professionellen Beteiligten einbetten kann und davon profitiert.

"Legitimation durch Verfahren" ist keine Selbstverständlichkeit

Die Analysen des politischen Populismus, des Familiengerichts oder der Gerichtsverfahren in China zeigten, dass die Institutionen sozialer Verfahren bis heute zum Teil starken Belastungen ausgesetzt sind. "Legitimation durch Verfahren" ist noch immer keine Selbstverständlichkeit. Die verschiedenen Verfahrenstypen müssen sich nach wie vor in einer turbulenten Umwelt reproduzieren, was stets mit dem Risiko des Scheiterns verbunden bleibt.

Die Beiträge belegten neben einer gewissen Vulnerabilität auch die Resilienz der klassischen Verfahrenssysteme. Die Analysen zu autoritären politischen Systemen, ad hoc entwickelten Schlichtungsverfahren (Stuttgart 21), Schlichtungsverfahren im Rahmen klassischer Gerichtsverfahren sowie Versöhnungs- und Wahrheitskommissionen zeigten zudem, dass in den letzten Jahren neue Verfahrenstypen entwickelt worden sind, die auf Schwächen der klassischen Verfahrenstypen reagieren und diese kompensieren.

Blick auf alternative Arrangements richten

Statt also gewissermassen zwanghaft an der von Luhmann vorgelegten "Liste" von Verfahrenstypen kleben zu bleiben, sie als endlich zu begreifen, erwies es sich als ertragreich, den Blick auch auf alternative Arrangements und funktional äquivalente Institutionen zu richten.

Neben unterschiedlichen Verfahrenstypen ist auch Luhmanns Begriff des Verfahrens selbst thematisiert und mehrfach zum Gegenstand der Diskussionen geworden. Zunächst unter dem Gesichtspunkt möglicher Generalisierung und seiner Übertragbarkeit etwa auch auf technische Verfahren, später dann unter dem Aspekt der Begriffsmerkmale schlechthin mit Betonung der Frage nach seiner Interaktionsabhängigkeit.

Die instruktiven Anschlüsse und wiederkehrenden Diskussionsfragen dokumentieren die unabgeschlossene Rezeption eines Buchs, das eben auch deshalb noch kein Klassiker ist, sondern Grundlage aktueller Forschung. Nach wie vor relevant scheinen nicht nur Luhmanns Ausgangsfragen und theoretischen Zugriffe, sondern auch seine Antworten zu bleiben.