«Absolut sichere Orte» in der Risikogesellschaft

Ein Seminar zur Risikosoziologie führte eine Gruppe von Studierenden ins Kernkraftwerk Gösgen. Dort konnten sie neue Verknüpfungen zwischen erarbeiteter Theorie und Beobachtungen aus der Praxis schaffen – dem mulmigen Bauchgefühl zum Trotz.

Aufmerksam schweifen die Blicke der Kontrolleure hinter den dicken Glasscheiben auf und ab. An den Kontrolllampen vorbei, die den Druck in den Wasserleitungen abbilden, hin zum Monitor, welcher in stetiger Bewegung den Temperaturverlauf des Kühlwassers anzeigt. Die Schichtverantwortlichen sitzen auf einem Schreibtisch, plaudern und lassen die Beine baumeln.

Ein normaler Arbeitstag in der Schaltzentrale des Kernkraftwerks Gösgen im solothurnischen Däniken, in unmittelbarer Nähe von heissen Brennstäben und atomaren Strahlungen. Eine Situation, die gerade durch die ihr innewohnende Ruhe einen bleibenden Eindruck bei den Studierenden hinterlässt.

Sicherheit: Grundgebot und zweischneidiges Schwert

«Hier sind wir an einem absolut sicheren Ort» lässt Heinz Gubler, unser Begleiter auf dem geführten Werkrundgang, überzeugt verlauten. «Sicherheit hat hier oberstes Gebot». Das glaubt man gerne angesichts der Tatsache, dass die gesamte Anlage während 24 Stunden von insgesamt 550 Mitarbeitenden überwacht wird. Kontrolliert wird nicht nur anhand technischer Instrumente, sondern auch mit Hilfe von implizitem Wissen – beispielsweise darüber, wie eine funktionierende Maschine normalerweise klingt.

Zudem sind diverse Redundanzen Teil des Systems: Für alle möglichen Störfälle stehen im KKW Gösgen mindestens vier spezifische Notfallpläne bereit, dazu gehören jeweils sechs Dieselgeneratoren als externe Stromquellen, Schutz vor Naturereignissen sowie Terrorismus.

Sicherheit in der Risikogesellschaft

Mit Sicherheit in der Risikogesellschaft haben sich die Studierenden im Seminar «Risikokommunikation» zusammen mit ihrem Dozenten Dr. Luca Tratschin schon das ganze Semester auseinandergesetzt. Die moderne Gesellschaft produziert und observiert durch innovative Technologien vermehrt Risiken – so lautet zumindest die grob umrissene These zur Risikogesellschaft. Der Begriff, welcher den Diskurs rund um die Risikosoziologie ab den 80er Jahren massgebend prägt, hat bis heute nicht an Relevanz verloren.

Als «organisationale Träger» von risikoreichen Entscheidungen sind Kernkraftwerke immer wieder Thema in Politik, Medien und auch in den Organisationswissenschaften. Die Eintrittswahrscheinlichkeit von Katastrophen gilt zwar unter Experten als absolut minimal und kann mit entsprechenden Massnahmen noch zusätzlich verringert werden. In der Gesellschaft bestehen ungeachtet dessen hartnäckige Zweifel bezüglich Legitimität sowie Zweckhaftigkeit von atomarer Energieherstellung. Der Blick auf das Risiko ist nicht wie bei den Experten geprägt durch die hohe Unwahrscheinlichkeit, dass überhaupt etwas passiert, sondern durch den immensen Schaden, wenn etwas schiefgeht.

Beschwichtigende Ausstellung

Die beschauliche und gezielt «entwarnende» Ausstellung als Teil der proaktiven Aussenkommunikation des Unternehmens zeigt das Bewusstsein für diesen Konflikt. Das Besucherzentrum im Kernkraftwerk Gösgen bietet nebst dieser Ausstellung zur schweizerischen Stromproduktion und Energiepolitik einen Werkrundgang an, welcher Einblicke hinter sonst verschlossene Türen bietet.

Wo so viel Sicherheit gewährleistet werden muss und deren Vorhandensein mit Nachdruck kommuniziert wird, entsteht unmittelbar der Eindruck, dass zwingend ein Risiko besteht. Aus soziologischer Perspektive entsteht so ein Paradoxon. Diesem haben sich die Studierenden im Seminar von Dr. Luca Tratschin ausgiebig gewidmet.

Perrow und die komplexen Systeme

Die dem beschriebenen Paradoxon zugrundeliegenden, komplexen Strukturen haben etwa den amerikanischen Organisationssoziologen Charles Perrow (1992) beschäftigt. In seinen Abhandlungen zur Katastrophe von 1979 im US-amerikanischen Kernkraftwerk in Three Mile Island schafft er einen direkten Bezug zur oben diskutierten Problematik. Perrow vermutet, dass komplexe, eng gekoppelte Prozesse, gegenüber linearen und einfach berechenbaren Abläufen unüberschaubar viele Reaktionsverknüpfungen begünstigen.

Diese innere Verschränkung sowie die schnellablaufenden Prozesse sind Charakteristiken, welche alle KKW teilen, auch jenes in Gösgen. Diese Betrachtung spiegelt sich im Rahmen unserer Führung in der stark betonten Redundanzen der Kontrollmechanismen. Nach Perrow sind gerade diese organisationalen Grosstechniken besonders anfällig für Störfälle und Katastrophen, welche sich somit beinahe unausweichlich ereignen. Doch wie soll man auf alles vorbereitet sein, ohne ein System komplex zu gestalten? Eine klare Antwort auf diese Frage kann auch die Führung nicht bieten – mögliche Annäherungen beruhen lediglich auf hypothetischen Szenarien.

Divergierende Einschätzungen der Risiken

Nebst den ambivalenten Ansichten hinsichtlich der Produktion von Kernenergie ist ein weiteres Problem in den Fokus gerückt, welches die Grenzziehung von Systemen in der Grosstechnikbranche in Frage stellt: Jene der Endlagerung radioaktiver Restmaterialien, die bis dato noch nicht gelöst ist. Zwar ist die Festlegung von Sachplänen durch den Bundesrat für Ende dieses Jahres angesetzt, trotzdem scheint die optimale und gefahrenfreie Lagerung von hochaktiven Abfällen weitere Fragen bezüglich der Zuständigkeit aufwerfen.

Inwiefern sich das KKW als Organisation mitverantwortlich fühlt, einen geeigneten, geologischen Endlagerungsplatz zu finden, welcher über mehrere Generationen hinweg gewährleitstet werden kann und zudem von der anwohnenden Bevölkerung toleriert wird, wird im Rahmen der der Führung nicht aufgegriffen.

Schokolade zum Abschied

Die Exkursion in das Kernkraftwerk bot die wertvolle Möglichkeit, kritische Fragen direkt an die Verantwortlichen zu richten und so frischen Wind in einen ansonsten relativ abstrakten Risikodiskurs zu bringen. Welcher Gefahr wir durch die Kernkraft tatsächlich ausgesetzt sind, ist kaum abzuschätzen. Tatsache ist aber, dass wir durch Ereignisse wie jene in Tschernobyl und Fukushima nachhaltig geprägt sind in Sachen Misstrauen hinsichtlich der Kernenergie – und somit sicherlich sensibilisiert für eines der vielen Risiken in unserem Alltag.

Trotzdem bleibt diese Angst eine hypothetische, denn vergleichbare Situationen gibt es nun mal nicht. So bleibt am Schluss nur die Frage nach dem «Was-wäre-wenn». Und eine Tafel Schokolade, welche zumindest kurzfristig einen süssen Nachgeschmack an den Besuch im KKW Gösgen schafft. Denn sobald die Kühldampf-Wolke hinter dem Horizont verschwindet, scheinen auch die damit verbundenen Probleme plötzlich weniger präsent zu sein.
 

Dieser Text wurde durch Naseema Ruch und Nadja Hutmacher verfasst, die beiden Studentinnen wurden dabei durch ihren Dozenten Luca Tratschin unterstützt.

Naseema Ruch (23) befürwortet stets das Verbinden von Praxis und theoretischer Lehre. Vor ihrem Studium hat sie im Marketing gearbeitet und befindet sich momentan im 5. Semester (Bachelor) in Gesellschafts- und Kommunikationswissenschaften. Nach ihrem Abschluss möchte sie sich am liebsten in Richtung Markenführung und Öffentlichkeitsarbeit entwickeln.

Nadja Hutmacher (22) studiert im 5. BA-Semester Gesellschafts- und Kommunikationswissenschaften. Vor dem Studienbeginn nahm sie ein Praktikum auf einer Musikredaktion in Angriff und kann sich gut vorstellen, auch nach dem Studium eine ähnliche Richtung einzuschlagen. Daneben liegen ihre Interessen besonders im Bereich der Architektur- und Stadtsoziologie.